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Dem Hungertod knapp entkommen

Verfasst im Mai 2006, aktualisiert im Mai 2020

Drei Tage war Rohanna schon bei mir und sie kam langsam zu Kräften
Drei Tage war Rohanna schon bei mir und sie kam langsam zu Kräften

Manchmal fügen sich die Dinge im Leben so, dass sich aus (vermeintlichen?) Zufällen plötzlich ein Bild ergibt, das einen durchaus an Vorbestimmung denken lassen könnte. Ob man daran glaubt oder nicht, sei einmal dahingestellt. Was ich mit meinem Wellensittichweibchen Rohanna erlebt habe, ließ bei mir den Gedanken an eine günstige Fügung des Schicksals jedoch unwillkürlich aufkommen.

Alles begann damit, dass sie etwa am 10. April 2006 aus ihrem Ei schlüpfte und in den folgenden Wochen von ihren Eltern großgezogen wurde. Die Welt war für sie vermutlich in Ordnung, bis der Züchter, bei dem sie mit ihrer Familie damals gelebt hat, sie eines Tages von ihren Eltern trennte und in einen Zoofachmarkt brachte. Dort sollte sie verkauft werden. So etwas geschieht tausendfach – Jungvögel werden flügge und sollen in ihr eigenes Leben starten. Sie werden von ihren Eltern getrennt und entweder vom Züchter selbst oder anderswo zum Verkauf angeboten.

Wenn sie Glück haben, gelangen sie in ein wundervolles Zuhause. Für Rohanna begann mit der Trennung von ihren Eltern jedoch zunächst einmal eine lebensbedrohliche Situation. Leider hatte der Züchter den jungen Wellensittich offenbar nicht aufmerksam genug beobachtet, denn sonst wäre ihm sicher aufgefallen, dass der Vogel noch nicht futterfest war. Das heißt, Rohanna war zu früh von ihren Eltern getrennt worden und konnte sich noch nicht selbst ernähren. Auf sich gestellt, wurde sie an den Zooladen übergeben, und dort nahm das Unglück seinen Lauf.

Nagender Hunger

Anfangs war Rohannas Kloakengefieder von ihrem flüssigen Durchfall verklebt
Anfangs war Rohannas Kloakengefieder von ihrem flüssigen Durchfall verklebt

Im Zoofachgeschäft angekommen, verlor der junge Wellensittich immer mehr an Kraft, denn er war noch nicht dazu in der Lage, die harten Körnchen der Samenmischung zu knacken, die in den Futternäpfen bereitstanden. Seine Eltern waren nicht in der Nähe und es war auch sonst kein Artgenosse da, der das junge Tier fütterte. Obwohl sie sicherlich instinktiv wusste, dass sie Nahrung zu sich nehmen muss, konnte Rohanna nicht fressen, und das, obwohl rundherum genügend Futter vorhanden war. In seiner Verzweiflung muss das Weibchen sehr viel getrunken haben, um den nagenden Hunger zu besiegen. Aber der Hunger war stärker und zerrte erbarmungslos an dem kleinen Körper.

Ohne Nahrung verlor der Vogel rapide an Gewicht. Die Kräfte schwinden in einer solchen Lage erschreckend schnell. Es verwundert also nicht, dass der junge Wellensittich bald nur noch ein schwaches Häufchen Elend war. Der Vogel war kaum dazu in der Lage, seinen Kopf zu heben. Außerdem war das Gefieder rund um die Kloake verschmiert, weil das viele Wasser, das der Jungvogel gegen den Hunger getrunken und später natürlich wieder ausgeschieden hatte, dort das Gefieder völlig durchnässt hatte.

Wie es der Zufall wollte …

Als sie wieder auf der Stange sitzen konnte, erwachte auch Rohannas Neugier
Als sie wieder auf der Stange sitzen konnte, erwachte auch Rohannas Neugier

Eigentlich kaufte ich damals praktisch nie in Zooläden ein, sondern bezog das Futter für meine Vögel sowie die Spielzeuge und das Zubehör per Versand aus dem Fachhandel. Doch in diesem Fall drängte die Zeit und ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass die Zustellung rechtzeitig erfolgen würde. In Kürze sollten zwei Katharinasittiche aus sehr schlechter Haltung bei mir einziehen. Für sie brauchte ich dringend eine Nager-Weidenbrücke, aus der ich eine neue Schlafhöhle für sie basteln wollte. Weil ich zu jener Zeit freiberuflich arbeitete und viel zu tun hatte, wollte ich eigentlich so schnell wie möglich wieder zurück nach Hause an den Schreibtisch. An jenem 18. Mai 2006 aber musste ich ein wenig Zeit in genau jenem Zooladen verbringen, in dem der junge Wellensittich beinahe verhungert wäre.

Auf dem Weg zur Kasse lief ich an den Verkaufskäfigen vorbei. Dabei streifte mein Blick zufällig das erschöpfte Bündel aus Haut, Knochen und Federn und ich wusste sofort, dass ich helfen musste. Der Vogel würde nicht mehr lange durchhalten, so viel stand für mich fest. Nach meinem eindringlichen Gespräch mit dem Personal gelangte das junge Wellensittichweibchen in meine Obhut und ich fuhr sofort zum Tierarzt, um meinen kleine Patientin untersuchen zu lassen (so viel zum Thema: „Ich muss so schnell wie möglich zurück an den Schreibtisch …).

Zwar war mir bereits von vorne herein bewusst, dass ich es mit einem halb verhungerten, noch nicht futterfesten Jungtier zu tun hatte, denn ich kannte diese Situation von meinem leider verstorbenen Vogel Serenio. Sein Schicksal glich dem des jungen Weibchens, allerdings hatte er die lange Hungerphase leider mit dem Leben bezahlt, ich habe ihn trotz aller Bemühungen nicht retten können. Aber dieses Mal sollte es klappen, hatte ich mir vorgenommen. Der kleine Vogel aus dem Zooladen sollte nicht auch einen derart sinnlosen Tod wie Serenio sterben müssen, weil sein Züchter unaufmerksam war und ihn zu früh von seinen Eltern getrennt hatte. Das hoffte ich von ganzem Herzen und ich wollte alles daran setzen, dem schwachen, grauen Wellensittich so gut wie möglich zu helfen. Deshalb wollte ich auf Nummer sicher gehen und eine Darm- oder Kropfinfektion ausschließen, denn diese hätte den Sittich in seinem damaligen Zustand sicherlich binnen kürzester Zeit getötet. Glücklicherweise war meine junge Patientin abgesehen von ihrem beängstigend niedrigen Gewicht von nur 26 g ansonsten kerngesund.

Endlich Futter

Anfangs musste Rohanna mit Futterbrei ernährt werden, der ihr per Kropfsonde eingegeben wurde
Anfangs musste Rohanna mit Futterbrei ernährt werden, der ihr per Kropfsonde eingegeben wurde

Zu Hause angekommen, rührte ich Handaufzuchtsbrei an, den ich zum Glück für Notfälle immer vorrätig hatte (und nach wie vor habe). Ich mischte zur Stabilisierung der Darmflora Bird Bene-bac darunter, gab Traubenzucker hinzu, ein wenig zerdrückte Banane für noch mehr Energie, und dann füllte ich das Gemisch in eine Spritze. Fürs Erste wollte ich dem Vogel fünf Milliliter Futterbrei eingeben, allerdings nicht auf dem umständlichen und für ihn kräftezehrenden Wege der Fütterung per Löffel. Ich entschied mich für eine Zwangsernährung per Kropfsonde. Diese ist zwar alles andere als angenehm für einen Wellensittich, weil ihm die Spezial-Kanüle durch den Rachen bis in den Kropf geschoben wird. Dabei wird der Vogel mit der Hand eisern fixiert, damit er nicht zappeln und sich so schlimmstenfalls innerlich an der Kanüle verletzen kann. Glücklicherweise hatte mir vor einigen Jahren ein vogelkundiger Tierarzt gezeigt, wie man Vögel per Kropfsonde ernährt, ohne sie dabei in Lebensgefahr zu bringen. Eine falsche Bewegung, und man trifft die Luftröhre – der Vogel erstickt dann qualvoll.

Der junge Sittich war so schwach, dass er sich kaum gegen die Prozedur wehren konnte. Mir war gleich klar, dass der Vogel vermutlich selbst überhaupt kein Futter mehr hätte schlucken können – es war allerhöchste Zeit, dass er etwas Nahrhaftes in den Körper bekam. Als ich den 38 °C warmen Brei in den Kropf laufen ließ, erschrak der Vogel erst einmal, gewöhnte sich aber schnell an das Gefühl, das der Brei im Kropf verursachte. Nach wenigen Sekunden war die Spritze leer und der Kropf des Wellensittichs einigermaßen gut gefüllt.

Nach dieser ersten Fütterung entließ ich Rohanna – so hatte ich die junge Vogeldame inzwischen genannt – in ihren Krankenkäfig und gönnte ihr einige Stunden Ruhe, die sie schlafend auf dem Boden verbrachte , mehr liegend als stehend. Noch fehlte ihr die Kraft, um länger als einige Sekunden auf den Stangen sitzen zu können, aber das änderte sich zum Glück bald. Sie bekam an dem Tag noch mehrmals kleine Mengen Futterbrei, was ihr dazu verhalf, zu Kräften zu kommen. Bereits am nächsten Tag war sie durch die regelmäßige Fütterung mit dem gehaltvollen Brei so kräftig geworden, dass sie 1,5 g zugenommen hatte und sogar auf die Sitzstangen klettern konnte und nicht gleich wieder von dort herunter fiel.

Erste eigene Mahlzeiten

Deutlich ist zu sehen, dass sich Rohanna noch ein wenig schwach gefühlt hat
Deutlich ist zu sehen, dass sich Rohanna noch ein wenig schwach gefühlt hat

Einen weiteren Tag später begann die junge Vogeldame damit, das im Käfig ausgelegte Futter zu inspizieren. Erst nahm sie ein paar Knaulgrassamen in den Schnabel, doch mit diesem Futter wusste sie noch nichts anzufangen. Danach begutachtete sie die rote Kolbenhirse, die ihr jedoch ebenfalls nicht zusagte. Das Quellfutter war da schon besser. Sie mühte sich sichtlich ab, aber es gelang ihr, innerhalb von etwa zehn Minuten immerhin fünf oder sechs Körnchen zu entspelzen – der erste Schritt in Richtung Selbstständigkeit war getan. Sie würde noch kräftig üben müssen, aber weil sie zusätzlich nach wie vor mit Handaufzuchtsbrei per Kropfsonde ernährt wurde, würde sie auf keinen Fall verhungern.

Quell- und Keimfutter waren in den nächsten Tagen ihre Lieblingskost. Diese aufgeweichten Körnchen konnte sogar sie als ungeübte „Knackerin“ öffnen. Anfangs dauerte es noch lange, bis ein Körnchen endlich in ihren Kropf wandern konnte. Wie fast alle jungen Wellensittiche war sie zunächst nicht besonders geschickt darin, die Spelzen zu lösen. Ihre Beharrlichkeit zahlte sich aber aus, so dass ihr Kropf meist nach einiger Zeit gut gefüllt war – und Zeitdruck hatte sie ja glücklicherweise nicht. Rohanna war auf dem allerbesten Weg, ein selbstständiges Vogelmädchen zu werden.

Einzug ins Vogelzimmer

Kurz nach ihrem Einzug ins Vogelzimmer war Rohanna schon sehr unternehmungslustig
Kurz nach ihrem Einzug ins Vogelzimmer war Rohanna schon sehr unternehmungslustig

„Hilfe, ein Gespenst!“ – Das in etwa scheinen die Gedanken der anderen Wellensittiche gewesen zu sein, als sie Rohanna endlich zu Gesicht bekommen haben. Ihre mit dünnem Jungvogel-Stimmchen vorgetragenen Rufe aus dem Nachbarzimmer hatten sie an den Tagen zuvor immer eifrig beantwortet. Die hellgraue Färbung des Vogels und das nahezu unsichtbare Wellenmuster jagten den werten Herrschaften anfangs jedoch ein wenig Angst ein. Es entbehrte nicht einer gewissen Komik, diese vielen „gestandenen Sittiche“ panisch vor einem zierlichen und tapsigen Jungvogel fliehen zu sehen, weil ihnen dessen Gefiederfarbe nicht geheuer war.

Zum Glück gewöhnten sie sich schnell an den „gespenstischen“ Neuzugang und beäugten Rohanna danach ausgiebig. Sara verhielt sich ihr gegenüber sehr aufdringlich und fast schon rabiat, wie es für diese draufgängerische Vogeldame eigentlich typisch ist. Alles Neue wurde von ihr erst einmal mit dem Schnabel begutachtet. Dass Rohanna diese Bisse in die Flügel nicht lustig fand, war nur allzu verständlich … Erstaunlicherweise wusste sie sich gleich zu wehren, was Sara dann bald dazu veranlasste, es gut sein zu lassen.

Endlich wieder bei Kräften, durfte Rohanna ins Vogelzimmer einziehen und die anderen Vögel kennenlernen
Endlich wieder bei Kräften, durfte Rohanna ins Vogelzimmer einziehen und die anderen Vögel kennenlernen

Nik, der Charmeur vom Dienst, ließ die junge Dame nicht aus den Augen, traute sich aber zu Beginn nicht näher an sie heran. Vermutlich konnte er nicht einschätzen, mit wem er es zu tun hatte. Er schien nicht so recht zu wissen, was er mit dem Neuzugang anfangen konnte, denn Rohannas Nase wies noch die typisch hellblaue Färbung auf, die die Wachshaut eines noch nicht geschlechtsreifen Weibchens normalerweise zeigt.

Weil Nik jedes Weibchen „beflirtete“, dem er im Vogelzimmer begegnete, war es jedoch nur noch eine Frage der Zeit, bis Rohanna seine volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Schon damals war ich mir sicher: Spätestens dann, wenn sie im Alter von rund sechs Monaten die Geschlechtsreife erreichen würde, dürfte sie für Nik und die anderen Hähne attraktiv werden. Und so war es denn auch, sie hatte später einen heftigen Flirt mit Nik. Das freute mich ungemein, denn es war nicht selbstverständlich, dass sie die anfängliche Hungerperiode überleben würde. Viele Vögel, die das durchmachen, erleiden Organschäden und sterben einige Wochen oder allenfalls wenige Monate später.

Nachtrag

Rohanna starb im Alter von ungefähr sechseinhalb Jahren im Oktober 2012. Bis auf ihre kurze und schwere Krankheit, die sie letztlich das Leben kostete, war sie zeitlebens gesund und fröhlich.

Rohanna Ende August 2006 – mit leichtem Übergewicht
Rohanna Ende August 2006 – mit leichtem Übergewicht
Rohanna mit Nik im November 2006
Rohanna mit Nik im November 2006
Rohannas Porträtseite
Rohanna †

Rohanna †

  Rohanna, adoptiert am 18. Mai '06, † 23. Oktober '12 War es bloß Zufall? Oder war es...