Artgerechte Wellensittichhaltung

Ein einsames einzelnes Wellensittichweibchen – tatsächlich war Wicky jedoch nur wegen eines Beinbruchs, der heilen musste, vorübergehend allein in ihrem Krankenkäfig
Ein einsames einzelnes Wellensittichweibchen – tatsächlich war Wicky jedoch nur wegen eines Beinbruchs, der heilen musste, vorübergehend allein in ihrem Krankenkäfig

Über eine artgerechte Haltung von Wellensittichen und anderen Heimvögeln ist in den vergangenen Jahren viel diskutiert worden. Doch was ist darunter eigentlich zu verstehen? Wie ist „artgerecht“ definiert und gelten die Definitionen für alle Ziervogelarten gleichermaßen? Nein, denn jede Art hat ihre eigenen Bedürfnisse, weshalb es wichtig ist, sich über diese genau im Klaren zu sein. Um zu verstehen, was für Wellensittiche wichtig ist, sind einige Überlegungen notwendig. Einige der in diesem Kapitel skizzierten Aspekte sind auf weitere Heimvogelarten übertragbar, denn auch etliche andere Vögel, die in menschlicher Obhut gehalten werden, eignen sich nicht für die Einzelhaltung. Trotzdem kann nicht eins zu eins alles auf andere Spezies übertragen werden. Wenn Sie beispielsweise Graupapageien oder Amazonen halten, sollten Sie sich in einigen Punkten gänzlich anders verhalten als Wellensittichhalter.

Niemals allein sein

In dieser Herrenrunde kommt nie Langeweile auf
In dieser Herrenrunde kommt nie Langeweile auf

Ein wesentlicher Bestandteil einer artgerechten, oder neutraler formuliert tiergerechten, Haltung eines Wellensittichs ist es, dem Vogel die Möglichkeit zu bieten, ständig soziale Kontakte mit seinesgleichen pflegen zu können. Weshalb dies erforderlich ist, erschließt sich, wenn man die Lebensweise der wilden Verwandten unserer als Haustiere gehaltenen Wellensittiche betrachtet. In ihrer Heimat Australien leben Wellensittiche in sehr großen Schwärmen. Von ihrer Geburt an sind sie normalerweise niemals allein. Schon im Nest sind sie von Geschwistern umgeben. Nach dem Verlassen des Nestes werden sie selbst Bestandteil der riesigen Gruppe, die durch die Landschaft streift – sie sind dann Teil des Schwarms, in dem ein Wellensittich niemals allein ist.

An dieses Leben innerhalb einer sehr großen Gemeinschaft haben sich die Wellensittiche im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte angepasst. Sie brauchen den permanenten Kontakt zu anderen Individuen ihrer Art, um seelisch gesund zu bleiben. Weil Wellensittiche fast nie still sind, ist das ständige Gezwitscher der Artgenossen für die Vögel gewissermaßen die perfekte „Hintergrundmusik“. Fehlt ihnen diese akustische Bestätigung, dass Artgenossen in der Nähe sind, fühlen sie sich meist unwohl. Denn in Australien sind Wellensittiche abgesehen von Ruhepausen nur dann still, wenn sich Feinde nähern und sie kurz davor sind, panisch die Flucht zu ergreifen. Solange andere Artgenossen zwitschern, ist für Wellensittiche die Welt also in Ordnung. Sie wissen instinktiv, dass dann mit recht hoher Wahrscheinlichkeit keine unmittelbare Gefahr droht.

Einzeln gehaltenen Wellensittichen fehlt diese „akustische Rückversicherung“, dass alles in Ordnung ist. Noch dazu fehlt ihm der Austausch mit seinesgleichen, der bei Wellensittichen ständig stattfindet. Um sein Bedürfnis nach permanenter Gesellschaft zu erfüllen, dürfte er von seinen Haltern niemals allein gelassen werden – nicht einmal für ein, zwei Stunden, weil der Halter in den Supermarkt oder zum Arzt gehen muss. Es müsste immer jemand im Haus sein, der sich mit dem Vogel beschäftigt, tagein, tagaus. Dies ist aber für nahezu keinen Vogelhalter tatsächlich umsetzbar.

Mehr über diese akustische Untermalung des Alltags der Wellensittiche erfahren Sie im Kapitel über die Bedeutung des Gesangs.

Fatale Langeweile

Werden Wellensittiche einzeln gehalten, können sie Verhaltensauffälligkeiten wie das Federrupfen entwickeln
Werden Wellensittiche einzeln gehalten, können sie Verhaltensauffälligkeiten wie das Federrupfen entwickeln

Wird ein einzeln gehaltener Wellensittich oft allein gelassen, empfindet er wahrscheinlich instinktiv ein Unwohlsein aufgrund dieser für seine Art unnatürlichen Einsamkeit. Darüber hinaus langweilen sich die Tiere rasch, denn sie sind sehr intelligent und brauchen ständig eine geistige Forderung, die sie im Umgang mit ihren Artgenossen für gewöhnlich erleben. Sind Einzelwellensittiche allein, leiden sie psychisch und entwickeln nicht selten Verhaltensauffälligkeiten. Zu diesen kann das permanente Schreien oder das Federrupfern gehören. Das heißt im Klartext ausgedrückt: Langeweile kann Wellensittiche zu psychischen Wracks werden lassen.

Fehlprägung auf den Menschen

Weil er den Menschen für seinen Sexualpartner hält, kopuliert dieser Wellensittich mit einer Hand
Weil er den Menschen für seinen Sexualpartner hält, kopuliert dieser Wellensittich mit einer Hand

Weil Wellensittiche sehr soziale Tiere sind, schließen sich viele einzeln gehaltene Vögel in ihrer Einsamkeit dem Halter sehr eng an. Oft findet eine sogenannte Fehlprägung statt: Die Vögel sehen die Menschen letztlich als Artgenossen und potenzielle Sexualpartner an und betteln ständig um Aufmerksamkeit. Sogar dann, wenn „ihr“ Mensch sich in ihrer Nähe aufhält, leiden sie mitunter, wenn der Halter sich nicht mit ihnen beschäftigt, sondern beispielsweise kocht oder fernsieht. Manchmal reicht es sogar schon aus, wenn der Mensch telefoniert – immer wieder ist von Vögeln zu hören, die wütend das Telefon attackieren, weil sie eifersüchtig sind.

Aus Sicht der Halter wird oft so argumentiert: „Mein Tier liebt mich, es will immer mit mir zusammen sein.“ Sie fühlen sich sogar dadurch geschmeichelt, dass ihr Vogel nach ihnen ruft oder eifersüchtig auf andere Menschen beziehungsweise im Extremfall sogar auf ein Telefon reagiert. Dass Ihre Vögel in Ermangelung anderer Möglichkeiten gezwungenermaßen den engen Kontakt suchen, kommt ihnen nicht in den Sinn. Und dass die Vögel ihnen gegenüber Paarungsverhalten an den Tag legen, hat nichts mit Liebe zu tun. Es ist vielmehr ein Anzeichen dafür, dass eine besorgniserregende Fehlprägung stattgefunden hat.

Partnerfütterung als Kontaktpflege

Den Partner zu füttern, gehört bei harmonischen Wellensittichpaaren zum Alltag
Den Partner zu füttern, gehört bei harmonischen Wellensittichpaaren zum Alltag

Unter Wellensittichen ist es üblich, dass sich eng miteinander vertraute Vögel, die eine innige Beziehung pflegen, füttern. Meist füttert das Männchen seine Partnerin, aber zuweilen ist es auch umgekehrt zu beobachten, oder aber zwei eng miteinander befreundete gleichgeschlechtliche Vögel füttern einander. Kein Vogelhalter kann seinem Wellensittich Nahrung in einer Weise verabreichen, wie es ein Artgenosse tun würde. Das Erlebnis „Partnerfütterung„, das für die sozial lebenden Wellensittiche wichtig ist, scheint Einzelvögeln demnach zu fehlen, könnte man daraus ableiten.

Ob sie die Partnerfütterung in der Einzelhaltung tatsächlich vermissen, darüber streiten manche Experten. Fakt ist jedoch, dass fehlgeprägte Wellensittichmännchen immer wieder versuchen, ihre Bezugspersonen mit hochgewürgten Körnchen zu füttern. Bei weiblichen Einzelwellensittichen ist oft zu beobachten, dass sie ihre Bezugsperson um Futter anbetteln, wie sie es normalerweise bei einem Artgenossen tun würden. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass Einzelvögel die Partnerfütterung sehr wohl vermissen, sowohl aktiv (selbst fütternd) als auch passiv (gefüttert werden). Deshalb versuchen sie den Menschen dazu zu bringen, sich an der Partnerfütterung entweder aktiv oder passiv zu beteiligen.

Soziale Gefiederpflege ist wichtig

Nicht nur während der Mauser kommt das 'Präzisionswerkzeug', der Schnabel, bei der sozialen Gefiederpflege zum Einsatz
Nicht nur während der Mauser kommt das ‚Präzisionswerkzeug‘, der Schnabel, bei der sozialen Gefiederpflege zum Einsatz

Im Rahmen eines tiergerechten Daseins benötigt ein Wellensittich mindestens einen Gefährten, der sein Gefieder pflegt, ihn also beispielsweise im Nacken krault. Die soziale Gefiederpflege ist ein wichtiger Bestandteil des Alltags dieser Vögel. Ohne einen gefiederten Partner wenden sich Wellensittiche oft dem Menschen zu und lassen sich von ihm mit den Fingern kraulen. Das mag herzerwärmend für den Halter sein, aber wenn es geschieht, weil kein anderer Vogel da ist, dann ist es eine bedenkliche Entwicklung. Der einzeln gehaltene Vogel tut es nur, weil ihm diese elementare körperliche Nähe so sehr fehlt und er in seiner Verzweiflung einen Ersatz für einen echten Artgenossen sucht.

Hinzu kommt, dass kein Mensch auch nur halb so gut kraulen kann, wie ein anderer Wellensittich es mit seinem „Präzisionswerkzeug“, dem Schnabel, bewerkstelligt. Dies gilt vor allem dann, wenn die Vögel in der Mauser sind und die feinen weißen bis silbrig gefärbten dünnen Hüllen, die Federscheiden, am Kopf eines Vogels Juckreiz verursachen. Mit ihrem Schnabel können Partnervögel die Federscheiden besonders vorsichtig und effizient öffnen und so dem mausernden Gefährten einen wichtigen Dienst erweisen.

Was bedeutet all das für verantwortungsbewusste Vogelhalter?

Wellensittichdame Sue genießt die Zuwendung ihres Partners Asgard
Wellensittichdame Sue genießt die Zuwendung ihres Partners Asgard

Die zuvor genannten Aspekte sprechen dagegen, dass ein einzelner Wellensittich tatsächlich tiergerecht gehalten werden kann. Dies gilt sogar dann, wenn ein Vogelhalter gewissenhaft versucht, ständig für sein Tier da zu sein. Niemand kann einen Partnervogel ersetzen. So sehr man es auch versuchen mag, etliche Details aus dem Sozialleben der Wellensittiche können Menschen nicht nachahmen, angefangen bei den arttypischen Lautäußerungen bis hin zur sozialen Gefiederpflege.

Wissenschaftliche Studie zum Thema

In einer Studie haben italienische und deutsche Forschende untersucht, welche stereotypen Verhaltensweisen Wellensittiche infolge sozialer Isolation und aufgrund von Platzmangel zeigen. Diese Forschungsergebnisse belegen die negativen Auswirkungen der Einzelhaltung und der Haltung unter beengten Bedingungen eindrucksvoll. Noch dazu hat sich deutlich gezeigt, dass sich die Verhaltensweisen der untersuchten Vögel normalisiert haben, nachdem sie wieder mit Artgenossen in Kontakt kommen durften.

Die Veröffentlichung in englischer Sprache gibt es unter dem folgenden Link: G. Polverino et al. Stereotypic behaviours in Melopsittacus undulatus: Behavioural consequences of social and spatial limitations. 2015, Applied Animal Behaviour Science. Die Veröffentlichung anschauen.