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Übersprungshandlung
Wellensittiche sind intelligente, sozial lebende Tiere, die mit großer Wahrscheinlichkeit Gefühlsregungen empfinden, die zumindest teilweise mit denen der Menschen vergleichbar sein dürften. Freilich sollte man Vögel auf keinen Fall vermenschlichen. Dennoch fallen in einigen Situationen gewisse Parallelen zwischen ihnen und uns auf. Eine dieser Empfindungen, zu denen die Wellensittiche offenbar fähig sind, ist die Verlegenheit. Gerät ein Wellensittich in Verlegenheit, hat das meist damit zu tun, dass zwei Instinkte in ihm in direktem Widerstreit miteinander entstehen – die Verlegenheit hat also eher nichts mit Schamgefühl oder Ähnlichem zu tun. Infolge eines solchen Widerstreites zweier Instinkte und damit verbundener Gefühlsregungen kann es vorkommen, dass der Vogel plötzlich eine Verhaltensweise zeigt, die nicht zur Situation passt. Entweder dient sie ihm dazu, sich kurzzeitig auf etwas anderes zu konzentrieren und so möglicherweise „den Kopf wieder frei“ zu bekommen, oder aber er lenkt von etwas ab. Diese der Situation unangemessenen, plötzlich auftretenden Aktionen werden in der Psychologie als Übersprungshandlungen bezeichnet. Sie können bei Wellensittichen je nach Situation und Individuum ganz unterschiedlich sein. In diesem Kapitel erfahren Sie, welche typischen Handlungsweisen bei bei Wellensittichen in solchen für sie widersprüchlichen Situationen oft zu beobachten sind.
Gefiederpflege als Übersprungshandlung
Hat ein Wellensittich mehrere Optionen zur Auswahl und kann er sich nicht entscheiden, wie er reagieren soll, kann es geschehen, dass er völlig unvermittelt damit beginnt, sein Gefieder zu pflegen. Dabei wird meist für einige Sekunden mit kurzen, ausgesprochen hektisch wirkenden Bewegungen das Bauchgefieder bearbeitet. Eine typische Situation, in der ich dieses Verhalten bei einem meiner eigenen Vögel regelmäßig beobachten konnte, ist die Folgende: Meine Wellensittichdame Rhea konnte man aus dem Konzept bringen, wenn man sie vor eine für sie schwierige Entscheidung stellte. Sie war sehr zutraulich und flog gern auf die Hand ihrer Bezugspersonen. Hielten ihr zwei Bezugspersonen die ausgestreckten Hände entgegen und lockten sie gleichzeitig, schaute Rhea zwischen den beiden Händen hin und her und wurde zusehends unsicherer. Meist begann sie dann damit, hektisch ihr Brust- und Bauchgefieder zu richten.
Nahrungsaufnahme als Übersprungshandlung
Ist ein Wellensittich durch eine Situation überfordert oder kann er sich nicht zu einer bestimmten Handlungsweise entscheiden, geschieht es mitunter, dass er sich plötzlich dem Futternapf oder etwas anderem zuwendet, das essbar ist. Das kann auch geschehen, wenn er beispielsweise beim Klettern abgestürzt ist, während er gerade in der Nähe eines Artgenossen war, dem er imponieren wollte. Die Nahrungsaufnahme aus Verlegenheit läuft für gewöhnlich recht hektisch ab und in den meisten Fällen stochern die Tiere dabei mehr mit dem Schnabel im Futter herum, als dass sie es wirklich fressen. Sie wälzen die Körnchen lediglich hin und her und nehmen kaum Nahrung zu sich.
Nagen als Übersprungshandlung
Ein Vogel, der in Verlegenheit gerät oder unentschlossen ist, kann unter Umständen damit beginnen, einen Ast oder einen anderen Gegenstand zu benagen. Durch die Schnabelarbeit bauen die Tiere vermutlich gleichzeitig ihre innere Anspannungen ein wenig ab. Oft kann man in Kombination mit diesem Benagen von Holz oder einem Gegenstand beobachten, dass der Vogel seinen Schnabel am Ast oder Gegenstand reibt.
Singen als Übersprungshandlung
Mein Wellensittich Titan legte ein sehr interessantes Verhalten an den Tag, wenn man ihn durch das Anbieten von Nahrung in Entscheidungsnot brachte. Normalerweise nahm er sehr gern Körnerfutter und Kolbenhirse aus der Hand seiner Bezugspersonen an. Weil Titan ein ausgesprochen harmoniebedürftiger Sittich war, geriet er in einen inneren Konflikt, wenn ich ihm sein Lieblingsfutter reichte, er aber gerade nicht hungrig war. Er schaute in solchen Situationen ein wenig unruhig hin und her, nahm dann zwei oder drei Körnchen in den Schnabel und begann anschließend zu singen. Es schien, als wolle er signalisieren, dass ihn das Futter zwar interessierte, er aber gerade Wichtigeres zu tun habe als zu fressen, nämlich das Zwitschern eines Liedes.
Kaum hatte ich mich von ihm abgewandt, hörte ich die Körnchen zu Boden fallen, sie waren von ihm nicht einmal entspelzt worden. Er behielt das Futter tatsächlich immer nur so lange im Schnabel, bis ich in eine andere Richtung schaute. Blieb ich jedoch vor ihm stehen, wenn er seinen Verlegenheitsgesang anstimmte, behielt er die Körnchen tapfer minutenlang im Schnabel, verschluckte sie jedoch nicht. Erst wenn sich Titan unbeobachtet fühlte, spuckte er das Futter wieder aus. Nie hat Titan die Fütterung per Hand verweigert, wenn er satt war. Lieber gab er vor, er würde ein paar Körnchen fressen, als dass er die ihm gereichte Nahrung abgelehnt hätte. Dieses Verhalten habe ich jedoch bislang ausschließlich bei ihm beobachten können, wohingegen das Singen als Übersprungshandlung hin und wieder auch bei anderen Vögeln aufgetreten ist.