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Verwaiste oder verstoßene Jungvögel

Völlig entkräftet und dehydriert (ausgetrocknet) ist dieser junge Wellensittich gewesen, als er in die Handaufzucht genommen werden musste.
Völlig entkräftet und dehydriert (ausgetrocknet) ist dieser junge Wellensittich gewesen, als er in die Handaufzucht genommen werden musste.

Trotz intensiver und fürsorglicher Betreuung der Brutpaare durch den Züchter kann es jederzeit geschehen, dass ein Vogelweibchen während der Phase, in der das Gelege gewärmt wird oder während die Jungvögel großgezogen werden, plötzlich stirbt. In weniger dramatischen Fällen ist das Weibchen lediglich daran gehindert, den Nachwuchs zu versorgen, und stirbt nicht gleich. Doch in jedem Fall ist es katastrophal für den Nachwuchs, wenn die Mutter ausfällt.

Geschieht dies, während das Weibchen brütet, sind die Eier nur dadurch zu retten, dass sie einer ebenfalls brütenden Artgenossin ins Nest gelegt werden. Allerdings sollten die Schlupftermine der Jungtiere dieses Wellensittichweibchens mit denen der Eier, die ihr ins Nest gelegt werden, zusammenpassen. Die zeitliche Differenz der Schlupftertermine sollte bei Wellensittichen sicherheitshalber nicht mehr als zwei bis drei Tage betragen. Es ist also sehr wichtig, dass der Züchter immer genau weiß, wann die Eier gelegt wurden. Nur wenn darüber genaue Kenntnisse vorliegen, können die Schlupftermine errechnet und so ein passendes Ammennest gefunden werden – falls mehrere brütende Paare vorhanden sind.

Sollte diese Möglichkeit nicht bestehen, weil nur ein Wellensittichpaar brütet, dann ist das Gelege meist verloren, wenn das Weibchen ausfällt. Verwaiste Eier mit einer Wärmelampe zu bestrahlen und exakt die richtige Temperatur zu treffen, um sie künstlich auszubrüten, ist für Laien nahezu unmöglich, zumal die Luftfeuchtigkeit bei einer Kunstbrut nicht zu niedrig sein darf. Lediglich einen automatischen, elektronisch betriebenen Brutschrank besitzt, hat eine Chance, ein verwaistes Gelege zu retten. Weitere Möglichkeiten zur Rettung der Eier existieren leider nicht.

Sind die Küken bereits geschlüpft, wenn ihre Mutter stirbt oder aus anderen Gründen die Jungenaufzucht nicht fortsetzen kann, hängt es vom Alter der Nestlinge sowie von den zur Verfügung stehenden Alternativen zur Hilfestellung ab, wie hoch die Überlebenschancen der jungen Vögel sind. Viele Vogelzüchter möchten in einem solchen Fall die Jungtiere von Hand großziehen, was jedoch komplizierter ist, als man es zunächst annehmen mag. Denn mit dem Verabreichen irgendeines Breifutters ist es bei Weitem nicht getan.

Der Kropf ist zwar sehr gut gefüllt, aber der Jungvogel bettelt die Futterspritze um noch mehr Brei an
Der Kropf ist zwar sehr gut gefüllt, aber der Jungvogel bettelt die Futterspritze um noch mehr Brei an

Eine Handaufzucht sehr junger Wellensittichküken ist eine sehr große Herausforderung und der Züchter wird vor einige Probleme gestellt. Etwa bis zu ihrem sechsten Lebenstag werden junge Wellensittiche von ihrer Mutter mit der sogenannten Vormagenmilch gefüttert. Dies ist ein milchiges Sekret, das von den Weibchen im Vormagen gebildet wird. Ernst wenn sie einige Tage alt sind, erhalten die Jungvögel einen vorverdauten Körnerbrei als Nahrung. In den ersten Lebenstagen wären sie noch nicht dazu in der Lage, diesen Körnerbrei zu verdauen. Die nährstoffreiche Vormagenmilch zu ersetzen, wenn die Vogelmutter ausfällt, ist äußerst schwierig. Von Experimenten mit gemahlener Hirse oder Haferbrei sei an dieser Stelle dringend abgeraten! Es gibt spezielles Futter, das auf die Bedürfnisse junger Vögel abgestimmt ist. Doch vielen Vogelhaltern und -züchtern unterläuft beim Futterkauf für Jungvögel ein folgenschwerer Fehler, weil es Futtermischungen mit ähnlichen Namen gibt.

Niemals sollten verwaiste oder von der Mutter verstoßene Jungvögel mit handelsüblichem Aufzuchtfutter ernährt werden. Dabei handelt es sich um eine Futtermischung, die zum Ernähren der Altvögel während der Brutperiode gedacht ist. Jungvögel benötigen hingegen eine spezielle Breinahrung, das sogenannte Handaufzuchtfutter. Die im Handel erhältlichen Produkte sind allesamt in Pulverform. Das Pulver wird vor jeder Fütterung frisch mit Wasser zu einem Brei angerührt. Er ist mit Nähr- und Mineralstoffen angereichert und versorgt die sich im Wachstum befindenden jungen Vögel optimal.

Mit einer Futterspritze oder Kropfsonde, die nur von sehr erfahrenen Vogelhaltern oder -züchtern eingesetzt werden sollte, wird dieser Futterbrei verabreicht. Problematisch ist oft, dass die Futterspritze im Vergleich zu sehr jungen Wellensittichen geradezu riesig ist. Ohne einen speziellen Aufsatz, zum Beispiel einen Zitzenaufsatz, den manche vogelkundigen Tierärzte beschaffen können, ist eine Fütterung nicht möglich. Und selbst mithilfe eines solchen Spritzenaufsatzes ist es für einen Laien ausgesprochen schwierig, wenige Tage alte Jungtiere erfolgreich großzuziehen, denn nicht immer öffnen sie bereitwillig den Schnabel. Ältere Jungvögel, die schon sehen können, gewöhnen sich meist schnell an die Futterspritze und nehmen den Futterbrei dann begierig an.

Bei der Fütterung geht mitunter etwas Brei daneben, weshalb die Jungtiere anschließend gereinigt werden müssen
Bei der Fütterung geht mitunter etwas Brei daneben, weshalb die Jungtiere anschließend gereinigt werden müssen

Nach jeder Fütterung müssen Breireste aus dem Gesicht und dem restlichen Gefieder der Jungen gewischt werden. Auch der Schnabel sollte gereinigt werden, vor allem auf der Innenseite. Denn verklumpt der Brei dort zu einem harten, dicken Brocken, dann er auf eine der Schnabelhälften drücken. Da diese während der Wachstumsphase noch sehr weich sind, entstehen dadurch rasch Schnabelfehlstellungen, die später nur mit großem Aufwand zu korrigieren sind.

Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Handaufzucht stellt die Häufigkeit der Fütterungen dar. Sehr junge Küken müssen rund um die Uhr, also auch nachts, regelmäßig mit jeweils recht kleinen Mengen Handaufzuchtfutter versorgt werden. Pausen von mehreren Stunden, wenn man beispielsweise bei der Arbeit ist, würden sie nicht überleben. Auch ist es nicht ratsam, ihnen nurselten Futter zu geben und dann jeweils große Mengen zu verabreichen. Das könnte zu massiven Verdauungsbeschwerden führen. Verwaiste Nestlinge haben nur dann eine Überlebenschance, wenn sie von einem erfahrenen Pfleger rund um die Uhr betreut werden können und eine dem jeweiligen Alter angemessene Menge Futterbrei in den genau richtig bemessenen Zeitabständen gereicht wird.

Außerdem müssen Jungvögel, die noch keine Federn haben, gewärmt werden. Es darf für sie nicht zu heiß, aber auch nicht zu kalt sein. Noch dazu muss die Luftfeuchtigkeit stimmen, sie sollte nicht zu niedrig sein. Bei zu geringer Luftfeuchte kann es zu Entwicklungsproblemen kommen, die sehr gravierend sind. Hinzu kommen etliche weitere Aspekte wie eine mögliche Fehlprägung auf den Menschen. Somit ist eine Handaufzucht eine extrem verantwortungsvolle und anstrengende Aufgabe, bei der der Züchter über mehrere Wochen am Ball bleiben muss.

Das folgende Video zeigt eine Fütterung unterschiedlich alter Wellensittichküken:

Ammenaufzucht als Rettungsmaßnahme

Recht hoch sind die Überlebenschancen für verwaiste oder verstoßene Küken, die nur wenige Tage alt sind, wenn man sie einer anderen Vogelmutter ins Nest legen kann, die zur selben Zeit eigenen Nachwuchs großzieht. Wellensittiche sind für gewöhnlich gute und verlässliche Ammen, sie nehmen fremde Jungtiere in den allermeisten Fällen sofort ohne Probleme an. Es besteht jedoch trotzdem das Risiko, dass man es mit einer Ausnahme zu tun hat und die Amme die fremden Nestlinge töten. Die eigenen Jungen der Amme sollten in etwa so alt wie die „Pflegeküken“ sein, damit die „Adoption“ reibungsfrei funktioniert.

Weibchen, die gerade selbst nicht brüten, kümmern sich normalerweise nicht um bedürftige Jungtiere, sie beißen die Küken in fast allen Fällen tot. Deshalb ist es nicht zu empfehlen, es mit einem nicht brütenden Weibchen als Ersatzmutter zu versuchen.

Ältere Wellensittichküken retten

Sind junge Vögel erst einmal an die Futterspritze gewöhnt, nehmen sie den Brei normalerweise problemlos an
Sind junge Vögel erst einmal an die Futterspritze gewöhnt, nehmen sie den Brei normalerweise problemlos an

Sind die jungen Wellensittiche bereits über zwei Wochen alt, wenn ihre Mutter stirbt oder sie nicht mehr mit Nahrung versorgen kann, schafft es der Vater meist problemlos, sie allein großzuziehen, sofern sich die Nestlinge gegenseitig wärmen können. Ein einzelnes Jungtier braucht unbedingt eine künstliche Wärmequelle, um nicht auszukühlen. Sprechen Sie mit ihrem vogelkundigen Tierarzt oder einem erfahrenen Züchter über dieses Thema, denn das Wärmen junger Vögel ist nicht leicht. Kontrollieren Sie zudem regelmäßig den Ernährungszustand der Nestlinge, die nur vom Vater aufgezogen werden, und füttern Sie gegebenenfalls selbst ein wenig artgerechten und auf die Bedürfnisse der Jungtiere angepassten Nahrungsbrei (Handaufzuchtfutter) mit der Futterspritze zu. Auch hierzu ist unbedingt Rücksprache mit einem fachkundigen Tierarzt oder sehr erfahrenen Vogelzüchter erforderlich.

Geschwächte Jungvögel, die mindestens drei Wochen alt sind, können von Experten mit einer sogenannten Kropfsonde oder -kanüle ernährt werden. Hierbei handelt es sich um einen speziellen Spritzenaufsatz, der bis in den Kropf geschoben wird. Entleert man die Futterspritze, gelangt der Futterbrei durch die Sonde direkt in den Kropf. Das Einführen der Kropfsonde in den Körper des Vogels sollte ausschließlich von Menschen durchgeführt werden, die genau wissen, was sie tun. Denn die kleinste falsche Handbewegung führt unweigerlich zum Tode des Jungvogels. Bei Vögeln verläuft die Luftröhre in unmittelbarer Nähe der Speiseröhre. Gelangt man mit der Kropfsonde in die Luftröhre, kann der Vogel binnen weniger Sekunden ersticken. Atmet er gar Futterbrei ein, kann dies ebenfalls sehr schnell zum Ersticken führen oder aber es entwickelt sich durch diese sogenannte Aspiration eine meist tödlich verlaufende Lungenentzündung. Doch sogar dann, wenn man die Kropfsonde ordnungsgemäß durch die Speiseröhre in den Kropf einführt, kann es zu einem folgenschweren Unfall kommen, wenn man mit der Hand zittert oder verrutscht: Dann könnte die Kropfsonde die Kropfwand durchstoßen – das Küken erleidet dadurch eine Verletzung, die in den meisten Fällen tödlich ist.

Ältere Jungtiere, die nicht allzu sehr geschwächt sind und vom Vater gut versorgt werden, kann man mit ein wenig Geschick mittels einer normalen Spritze (ohne Nadel) und später mit einem Löffel zusätzlich ernähren. Allerdings sollte auch dies nicht ohne grundlegende Kenntnisse über die Handaufzucht erfolgen. Eine gründliche Einweisung durch einen vogelkundigen Tierarzt oder erfahrenen Züchter ist ratsam.

Tipps zur Notfall-Handaufzucht von Wellensittichen

Wenn Sie eine theoretische Einführung in die Handaufzucht benötigen, können Sie einen PDF-Leitfaden herunterladen: bitte hier klicken. Ich bitte Sie inständig, Küken nur dann von Hand großzuziehen, wenn dies als lebensrettende Maßnahme erforderlich ist. Diesen Schritt zu gehen, um die Jungvögel an den Menschen zu gewöhnen, wäre falsch. Nirgendwo sind Küken besser aufgehoben als bei fürsorglichen Vogeleltern. Zähmen kann man sie später trotzdem noch, auch wenn sie aus einer Naturbrut stammen und nicht vom Menschen per Hand aufgezogen wurden.

Literaturtipps

Der junge Unzertrennliche erhält Aufzuchtbrei aus der Futterspritze
Der junge Unzertrennliche erhält Aufzuchtbrei aus der Futterspritze

Ein spezielles Buch über die Handaufzucht von Wellensittichen ist bedauerlicherweise nicht erhältlich. Zum Thema Handaufzucht von Papageienvögeln sind jedoch zwei hervorragende Werke verfügbar – zumindest aus zweiter Hand:

Kunstbrut und Handaufzucht von Papageien und Sittichen
Matthias Reinschmidt
ISBN: 978-3980529167

und

Handaufzucht von Papageien
Rudolf K. Wagner
ISBN: 978-3980611435


Hinweis: Das Titelbild dieser Seite zeigt einen in Not geratenen jungen Nymphensittich, der von Hand gefüttert werden musste, weil er schwer erkrankt war. Bedauerlicherweise ist er einige Tage später trotz aller Bemühungen, ihn zu retten, letztlich gestorben. Sein Name war Noel.