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Zwei Nordlichter im Glück

Verfasst im Dezember 2003, überarbeitet im Mai 2020

Welche Wunder geschehen können, wenn sich die Wege zweier Vögel kreuzen, die das Pech gepachtet zu haben schienen, zeigt die Geschichte von Helene und Orpheus. In einer Hamburger Vermittlungsstelle für Wellensittiche des damals noch aktiven Vereins der Wellensittich-Freunde Deutschland e. V. (VWFD) trafen sie erstmals aufeinander und es war geplant, dass sich ihre Wege später wieder trennen würden. Aber alles kam anders, und am Ende wurde daraus eine zauberhafte Liebesgeschichte, die nur dank der tatkräftigen Unterstützung des VWFD entstehen konnte.

Die tut doch nichts … – Helenes Albtraum

Helenes rechter Flügel war durch den Angriff einer Katze gebrochen und wies eine Fehlstellung auf
Helenes rechter Flügel war durch den Angriff einer Katze gebrochen und wies eine Fehlstellung auf

Das Licht der Welt erblickte die olivgrüne Wellensittichdame bei einer Familie, die ihren Wellensittichen erlaubte, Nachwuchs zu haben. Außer den Vögeln wohnte bei dieser Familie auch noch einer der natürlichen Feinde der Gefiederten: eine Katze. Niemand hatte es damals für möglich, dass der kuschelige Stubentiger den Vögeln auch nur eine Feder krümmen könne („die tut doch nichts“) – bis es völlig unvermittelt zur Tragödie kam, die durchaus auch tödlich hätte ausgehen können …

Voller Tatendrang verließ Helene, die damals einen anderen Namen trug, als Junghenne den Nistkasten und erkundete von kräftigen Flügelschlägen getragen fliegend ihr Zuhause. Ihr Instinkt dürfte sie beim ersten Anblick der Katze in Alarmbereitschaft versetzt haben, aber weil der Fressfeind ständig in der Nähe war, stumpfte ihre Angst vermutlich rasch ab. Bis zu jenem schicksalhaften Tag, an dem sie wie schon so viele Male zuvor durch die Wohnung flog und die Anwesenheit der Katze ignorierte. Sie drehte fliegend ihre Runden, als sie plötzlich und unerwartet ein Hieb am Flügel traf und zu Boden stürzen ließ. Der Jagdinstinkt der Katze war ganz plötzlich erwacht. Er hatte die ganze Zeit verborgen in ihr geschlummert, obwohl die Besitzer der Tiere dies nicht für möglich gehalten hatten.

Helene bekommt Streicheleinheiten
Helene bekommt Streicheleinheiten

Mit ihren scharfen Krallen hatte die Katze den Wellensittich im Flug erwischt und ihm mit nur einem Schlag den Flügel gebrochen. Der Vogel schleppte sich flugunfähig und blutend über den Boden, um sich in Sicherheit zu bringen. Wie durch ein Wunder entkam Helene der Katze, deren nächster Hieb sehr wahrscheinlich tödlich gewesen wäre. Die Tierhalter pflegten den verletzten Sittich, der Flügel blieb aber leider für immer unbrauchbar.

Einige Zeit später hatten die Halter das Interesse an dem behinderten Vogel verloren, Helene wurde abgegeben. Sie gelangte zunächst in Hamburg in eine Auffangstation des VWFD. Von dort aus sollte sie in ihr neues Zuhause vermittelt werden. In dieser Station hat sie die ersten Blicke mit dem ebenfalls dort auf seine Vermittlung wartenden Orpheus ausgetauscht. Außerdem kümmerte sich das Vereinsmitglied Natalie liebevoll um die zutrauliche Vogeldame, denn sie war ihr rasch ans Herz gewachsen.

Vogelmann auf Irrwegen

Orpheus hatte anfangs nicht viel Glück in seinem Leben
Orpheus hatte anfangs nicht viel Glück in seinem Leben

Einst gehörte der leuchtend gelb-grün gefärbte Vogelmann Orpheus, der in seinem früheren Zuhause keinen Namen trug, einer Frau in Hamburg. Zusammen mit einer blauen Vogeldame lebte er in einem Käfig, in den die Vögel den ganzen Tag eingesperrt waren. In diesem Gefängnis konnte er seine Mitinsassin nicht von seinen Qualitäten als Mann überzeugen, so lebten die beiden Sittiche auf engstem Raum nebeneinander in einer Zweckfreundschaft, die ihr trostloses Dasein kaum erträglicher machte.

Irgendwann wurden die Vögel der Frau zuwider und sie schenkte sie einem Mann, genau genommen ihrem Ex-Freund. Dieser wusste nicht einmal, was Wellensittiche sind, und behandelte die beiden Tiere wie zwei tote Gegenstände, ohne dabei auch nur im Geringsten an ihnen interessiert zu sein. In einer Hamburger Zoohandlung erzählte er deren Besitzer von den beiden „Dingern“ (Originalzitat!), die ihm einfach nur lästig waren. Der Inhaber des Zoogeschäftes war erschüttert. Er war ein guter Mensch und arrangierte kurzerhand die Adoption der beiden unglücklichen Vögel, ohne sie überhaupt gesehen zu haben.

In der privaten Voliere des Zooladen-Besitzers angekommen, fand die blaue Vogeldame unter den mehr als zehn weiteren Wellensittichen schnell ihre große Liebe. Orpheus ging leer aus, obwohl er endlich ein besseres Leben hatte. Kaum hatte er sich in diesem schönen Zuhause mit viel Freiflug und gefiederter Gesellschaft eingelebt, geriet sein Leben aber leider vollends aus den Fugen. Eines Morgens fand der Zooladen-Besitzer den Vogel mit einem herabhängenden Flügel hilflos am Boden sitzend vor. Es muss in der Nacht zu einem folgenschweren Unfall gekommen sein, der den armen Wellensittich für immer flugunfähig werden lassen hatte.

Orpheus in der Vermittlungsstelle in Hamburg
Orpheus in der Vermittlungsstelle in Hamburg

Unter vielen fliegenden Artgenossen war er als einziger behinderter Vogel nicht optimal aufgehoben, weshalb er abermals in ein besseres Zuhause ziehen sollte. Schweren Herzens gab der Zooladen-Besitzer den Unglücksvogel weg, um ihm ein besseres Leben in einer behindertengerechteren Umgebung zu ermöglichen. Aus diesem Grund kam auch Orpheus vorübergehend in der Hamburger Vermittlungsstation unter, um von dort aus bald darauf in sein neues Leben zu starten. Sein Blick war leicht melancholisch und es schien fast so, als würde er genau wissen, dass sein Leben bisher völlig falsch gelaufen war. Aber bald sollte sich für den tapferen und trotz allem lebensfrohen Vogelmann alles zum Besseren wenden, wenn auch erst nach einem weiteren Schicksalsschlag.

Die Fahrt in den Süden

Viele Singvögel fliegen im Herbst in den Süden, um dort zu überwintern. Auch Helene, Orpheus und einige andere Wellensittiche sollten im Spätherbst 2003 von Hamburg aus in südlichere Gefilde gebracht werden, allerdings nicht, um dort nur zu überwintern. Die Vogelvermittlerin des VWFD hatte durch ihr großes Organisationstalent für die meisten Vögel aus der Vermittlungsstation ein neues Zuhause gefunden.

Natürlich konnten nicht alle Vögel zusammen in dasselbe Zuhause vermittelt werden, aber es gelang ihr, viele der Tiere nach Nordrhein-Westfalen zu vermitteln. Also machte sie sich mit den Wellensittichen selbst auf den Weg, um sie schnellstmöglich mit dem Auto in das von ihrer Heimat aus gesehen südlicher gelegene Bundesland zu transportieren. Während dieser Fahrt waren Helene und Orpheus einander noch nicht sonderlich gut vertraut und eigentlich sollten beide ohnehin zu jeweils unterschiedlichen Vogelhaltern gebracht werden. Eigentlich …

Ankunft in Essen

Helene oben auf dem Käfig sollte bei mir einziehen, aber der gelbe Orpheus wurde dann spontan auch noch adoptiert
Helene oben auf dem Käfig sollte bei mir einziehen, aber der gelbe Orpheus wurde dann spontan auch noch adoptiert

Nachdem Natalie an jenem Tag bereits viele Vögel in Nordrhein-Westfalen bei den neuen Besitzern abgeliefert hatte, kam sie am frühen Abend zusammen mit Tanja, einem weiteren VWFD-Mitglied, bei mir an. Im Transportkäfig saßen drei Wellensittiche, darunter Helene, die ich an jenem Tag wie geplant adoptieren wollte. Während des Transportes hatte sie sich mit einem wildfarbenen Männchen die Zeit vertrieben, mit dem sie schmuste, als wir sie aus dem Käfig nehmen wollten, damit sie bei mir einziehen konnte.

Über den leuchtend gelb-grün gefärbten dritten Sittich, der später den Namen Orpheus bekommen sollte, erzählte mir Natalie Trauriges. Eigentlich hatte er am selben Tag adoptiert werden sollen. Aber die Vermittlung war wenige Stunden zuvor daran gescheitert, dass der neue Besitzer nun doch keinen flugunfähigen Vogel aufnehmen wollte. Das heißt, Natalie hatte schon mit dem Vogel vor seinem Haus gestanden und der arme Wellensittich war auf der Türschwelle kaltherzig abgewiesen worden! Dann müsse er bedauerlicherweise wieder nach Hamburg, denn derjenige, der am selben Abend noch den dritten im Bunde, den grünen Vogel für sich reserviert hatte, hätte nicht auch noch den gehandicapten gelb-grünen Sittich adoptieren können, erklärte mir Natalie. Sie wollte also den wildfarbenen Vogelmann später noch wegbringen und dann nach Hause fahren – mit einem „Ladenhüter“ an Bord.

Beim Anblick des verschmähten Vogels, dessen Schicksal so ungewiss war, entschied ich spontan, dass die lange Reise von Hamburg nach NRW für ihn nicht völlig umsonst gewesen sein sollte. Der Gedanke, dass er erneut nach Hamburg gebracht werden würde und dort weiterhin auf eine erfolgreiche Vermittlung würde warten müssen, war wirklich unschön. Deshalb durfte der Vogelmann wie Helene ein Mitglied meines Wellensittichschwarms werden.

Tanja, Natalie und ich waren uns anfangs nicht sicher, ob es tatsächlich richtig sein würde, Helene und den wildfarbenen Wellensittich zu trennen und sie stattdessen mit Orpheus in meinen Vogelschwarm einziehen zu lassen. Aber der wildfarbene Wellensittich war bereits jemand anderem versprochen worden und die beiden Turtel-Wellis hatten einander erst auf der Fahrt nach NRW ins Herz geschlossen. Wir trennten also kein bereits seit langer Zeit liiertes, harmonisches Paar. Der grüne Vogel wurde übrigens später im neuen Zuhause von etlichen Artgenossen begrüßt und fand schnell Anschluss.

Das perfekte Glück

Helene und Orpheus im Dezember 2003
Helene und Orpheus im Dezember 2003

Weil meine beiden neuen Vögel bereits im Vorfeld längere Zeit unter Beobachtung gestanden hatte, durften Helene und Orpheus noch am selben Abend ins Vogelzimmer einziehen. Ich konnte sicher sein, dass sie keine Krankheiten in sich trugen. Innerhalb weniger Minuten hatten die beiden Neuen das neue Zuhause erkundet und sich mit den anderen – größtenteils ebenfalls flugunfähigen – Vögeln bekannt gemacht. Man merkte ihnen an, dass sie sich augenblicklich wohlfühlten. Während Natalie, Tanja und ich uns etwas später an jenem Abend erst einmal mit weiteren Vogelfreunden in einer Pizzeria zum gemeinsamen Essen trafen, um die erfolgreichen Vermittlungen zu feiern, kamen sich die beiden neu eingezogenen Wellensittiche in ihrem Zuhause rasch näher.

Es dauerte keine drei Tage, bis auch für mich erste Anzeichen großer Verliebtheit bei beiden Vögeln nicht mehr zu übersehen waren. Eine Woche nach ihrem Einzug ins Vogelzimmer waren Helene und Orpheus ein sichtlich schwer verliebtes Paar geworden. Sie bekundeten einander ihre Zuneigung vom ersten Tag ihrer festen Beziehung an mit ausgiebigem Kuscheln und Kraulen. Meine spontane Entscheidung, auch Orpheus zu adoptieren, hatte den beiden gefiederten Nordlichtern den Weg ins perfekte Glück geebnet, denn sonst hätten sie einander vermutlich nie wieder gesehen.

Nachtrag

Helene und Orpheus am 30. Oktober 2004
Helene und Orpheus am 30. Oktober 2004

Das Liebesglück der beiden „Nordlichter“ währte beinahe ein Jahr. Im Oktober 2004 erkrankte Helene an einem Tumor und war bis zu ihrem letzten Lebenstag trotzdem fröhlich. Dann, am späten Abend des 30. Oktober 2004, verschlechterte sich ihr Zustand rapide und sie musste eingeschläfert werden. Für Orpheus war der Verlust seiner Partnerin anfangs ein Schock. Er fand aber bald trotzdem wieder weiblichen Anschluss in meinem Vogelschwarm. Gleich zwei Weibchen wählte er aus und war mit ihnen bis zu seinem Tod am 23. Juni 2006 glücklich. Er starb an plötzlichem Herzversagen, ohne im Vorfeld krank gewesen zu sein.