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Flugunfähigkeit durch Flügelamputation
Text und Bilder von Gaby Schulemann-Maier (Birds-Online.de), 21.12.2003
Mitunter kann es notwendig sein, einen mehr oder minder großen Teil eines Flügels amputieren zu lassen, um das Leben eines Vogels zu retten. Die Leidensgeschichte meines Wellensittichweibchens Io stellte einen typischen Fall dar, in dem das Entfernen eines Flügelgliedes bedauerlicherweise der einzige Weg war, dem Vogel ein schmerzfreies Weiterleben zu ermöglichen.
Als Io in meine Obhut gelangte, hing ihr linker Flügel herab, da sie sich bei ihrem vorherigen Halter einen Bruch zugezogen hatte. Dieser Bruch war nicht behandelt worden, weshalb er schief verheilt war. Aufgrund dieser Tatsache war Io nahezu flugunfähig. Schief verheilte Flügelbrüche bedeuten eine Fehlstellung in den „Tragflächen“, wodurch betroffenen Vögeln der nötige Auftrieb dafür fehlt, sich in der Luft halten zu können, um es einmal technisch zu umschreiben.
Im Herbst 2003 bildete sich eine harte, knöcherne Beule an Ios herabhängendem Flügel. Diese Beule wuchs innerhalb weniger Tage stark an. Der zurate gezogene Tierarzt diagnostizierte eine unkontrollierte Wucherung des Knochens an der schief verheilten Bruchkante. Es war seiner Einschätzung zufolge zu erwarten, dass die Wucherung auch in Zukunft weiterhin unkontrolliert wachsen würde, vielleicht sogar noch rascher als bis zum Tag des Tierarztbesuches. Irgendwann würde Io nicht mehr gerade stehen können, weil die Wucherung zusehends schwerer werden und sie zur Seite ziehen würde.
Als wäre das noch nicht schlimm genug, würde noch das enorme Verletzungsrisiko hinzukommen. Da die Wucherung die Haut so enorm spannte, dass die Federn sie nicht mehr bedecken konnten, war diese Stelle des Flügels ungeschützt und damit ausgesprochen verwundbar. Hätte sich Io eine größere Verletzung am Flügel zugezogen, wäre vermutlich eine stark blutende Wunde die Folge gewesen.
Etwas musste geschehen, anderenfalls wäre Ios Lebensqualität innerhalb der folgenden Wochen dramatisch geschwunden und zudem hätte der Wellensittich wahrscheinlich recht bald der Tod durch Verbluten ereilt. Um ihr Leben zu retten und es weiterhin lebenswert zu gestalten, entschieden mein Tierarzt und ich, den unkontrolliert wuchernden Teil des Knochens zu entfernen, sprich ein Stück des Flügels zu amputieren. Zum Glück war Io ohnehin eine geübte und sehr geschickte Läuferin, weil sie bereits seit längerer Zeit nahezu flugunfähig war. Deshalb ging ich davon aus, dass die Amputation ihre Lebensqualität nicht nennenswert verschlechtern würde.
Am Abend vor der Operation brachte ich Io zu meinem Tierarzt, in dessen Praxis sie die Nacht verbringen musste. Am Nachmittag des folgenden Tages erreichte mich endlich der erlösende Anruf im Büro und der Arzt teilte mir mit, Io habe die Operation bestens überstanden. Im Hintergrund hörte ich sie bereits wieder lauthals zwitschern, der Eingriff schien ihr wenig ausgemacht zu haben. Als ich sie nach der Arbeit beim Arzt abholte, schaute sie interessiert in der Gegend umher, saß aufrecht auf einer der Stangen des Krankenkäfigs und wirkte so munter, als sei absolut nichts geschehen. Einzig der grüne Verband an ihrem Flügel zeugte von der Amputation.
Die ersten beiden Tage nach der Operation verbrachte Io gemeinsam mit ihrem sehr ruhigen und fürsorglichen Partner Pollux im Krankenkäfig, der in meinem Wohnzimmer stand. Für gewöhnlich müssen frisch operierte Vögel absolute Ruhe haben, weshalb Tierärzte meist empfehlen, sie vorübergehend einzeln zu halten. Da Io ohne ihren Partner aber zu nervös war und nicht still sitzen blieb, habe ich mich dazu entschlossen, Pollux zu ihr zu lassen. Er kraulte sie und trällerte ihr Lieder vor, während sie sich entspannte und weitestgehend reglos sitzen blieb, manchmal schlief sie sogar neben ihm ein. Seine Gesellschaft tat ihr gut und ihr Körper konnte sich deshalb deutlich rascher von der Operation erholen, als wenn sie ständig im Käfig umher geklettert wäre, um einen Ausgang zu suchen. Am Verband knabberte übrigens keiner der beiden Vögel.
Zwei Tage nach der Amputation betrachtete der Tierarzt die Wunde. Sie war bereits gut verheilt, blutete fast nicht und war nicht übermäßig stark geschwollen. Beim Verbandswechsel sah ich erstmals, wie wenig mein Tierarzt vom Flügel abgenommen hatte. Getreu dem Motto „so viel wie nötig, so wenig wie möglich“ hat er nur den äußeren Teil des Flügels amputiert, der Rest ist erhalten geblieben. Von weitem betrachtet, würde es in Zukunft rein optisch gar nicht auffallen, dass ein Stück des Flügels fehlt, weil die großen Schwungfedern bis auf eine noch alle vorhanden waren. Nach der Untersuchung ließ ich Io ins Vogelzimmer, weil sie im Käfig nur noch auf und ab lief, selbst Pollux konnte sie nicht mehr beruhigen. Im Kreise ihrer Freunde entspannte sie sich wieder und hampelte nicht dauernd herum.
Nach gut drei Wochen war die Wunde so weit abgeheilt, dass der Verband dauerhaft entfernt werden konnte. Io sah sichtlich erleichtert aus, obwohl sie in der gesamten vorangegangenen Zeit nicht am Verband geknabbert hatte. Die Wunde war von einer trockenen, geschlossenen und nicht besonders dicken Blutkruste bedeckt. Der Anblick des versehrten Flügels war anfangs sehr gewöhnungsbedürftig für mich. Glücklicherweise fühlte sich Io durch die verheilende Wunde aber keineswegs gestört, sie war so fröhlich und zufrieden wie eh und je. Auch nachdem der Verband die heilende Wunde nicht mehr schützte, knabberte Io nicht am Flügelstumpf.
Nachdem die Wunde gänzlich abgeheilt war, konnte Io wieder ein wenig flattern, wenn auch recht unkoordiniert. Sie ist – wie schon vor der Amputation – noch immer eine passionierte Fußgängerin. Zusammen mit ihrem Partner Pollux rennt sie mitunter so schnell durch das Vogelzimmer, dass ich sie nicht so leicht einfangen könnte, wenn ich es drauf anlegen würde. Ich bin froh darüber, mich für die Amputation entschieden zu haben. Auf diese Weise ist es gelungen, Ios Leben unbeschwert und lebenswert weitergehen zu lassen.
Nachtrag
Bedauerlicherweise war Ios neu gewonnene Gesundheit nicht von langer Dauer. Am 29. Februar 2004, also nur wenige Wochen nach der Operation, verstarb sie infolge eines Kloakenvorfalls.
Das Buch kann für 29,90 € direkt beim Verlag bestellt werden: Web-Shop des Arndt-Verlags