Mia
Als Mia im Frühling 2011 bei meiner Freundin das Licht der Welt erblickte, deutete nichts darauf hin, dass sie schon bald zum „Sorgenküken“ werden sollte. Anfangs gedieh sie wie ihre Geschwister prächtig. Doch dann stagnierte irgendwann ihr Federwachstum und sie blieb halb nackt, während ihre Brüder und Schwestern längst voll befiedert waren und das Fliegen übten. Mia war die Einzige, die diese gravierende Befiederungsstörung aufwies.
Als sie alt genug war, um ein paar Stunden von ihren Eltern zu werden, ohne gleich zu verhungern, wurde sie zum Tierarzt gebracht und gründlich durchgecheckt. Die Virusinfektionen PBFD und Französische Mauser konnten ausgeschlossen werden. Vielmehr ergab die Untersuchung, dass der junge Vogel während der Wachstumsphase zu wenige Nährstoffe mit dem Futter erhalten hatte oder sein Körper diese allem Anschein nach nicht in ausreichendem Maße hatte verwerten können. So war es dazu gekommen, dass sich viele Federn nicht richtig bilden konnten oder gar nicht erst entstanden sind.
Im Klartext hieß dies: Mia würde nach dem Verlassen des Nestes flugunfähig sein und es vielleicht für den Rest ihres Lebens bleiben, falls die Federn nicht später doch noch nachwachsen würden. Der Arzt konnte diesbezüglich keine Aussage machen und meinte, man müsse es abwarten. Sicher war, dass Mia als schwer gehandicapter Jungvogel voller Tatendrang im Vogelzimmer meiner Freundin nicht gut aufgehoben sein würde. Denn das Zimmer war nicht so eingerichtet, dass Vögel mit derart schweren körperlichen Einschränkungen dort gut zurechtkommen würden. Wir besprachen uns und ich bot an, Mia vorerst in meinem behindertengerecht eingerichteten Vogelzimmer unterzubringen. Mal schauen, wie sie nach der Jugendmauser aussehen wird – das war unser Motto.
Am 2. Oktober 2011 traf Mia bei mir ein. Schüchtern war sie anfangs, und wegen der fehlenden Federn wirkte sie winzig klein. Meine Vögel waren selbst fast alle gehandicapt und keine Rüpel. Sie gingen sehr freundlich mit dem jungen Neuzugang um und nahmen sie quasi „mit offenen Flügeln“ in ihren kleinen Schwarm auf. Man merkte Mia an, wie gut es ihr tat – sie blühte in den kommenden Tagen und Wochen regelrecht auf. Bald schon war aus ihr eine selbstbewusste junge Vogeldame geworden. In Tara, die wie sie nur wenige Federn hatte, fand sie eine gute und treue Freundin. Die beiden flugunfähigen Damen rannten mit Vorliebe nebeneinander her und machten gewissermaßen kleine Wettrennen. Dabei wurde dann immer gern am Fressnapf ein Zwischenstopp eingelegt.
Im Dezember 2011 setzte die Jugendmauser ein und ein kleines Wunder geschah: Mia bekam in der darauffolgenden Zeit am gesamten Körper Federn, inklusive der langen Federn an den Flügeln (Schwungfedern) und Schwanzfedern. Ende Januar war sie voll befiedert und hätte theoretisch fliegen können, weil sowohl das Gefieder als auch ihre Flügel selbst in bester Ordnung waren. Aber sie lernte das Fliegen nicht. Nach wie vor bewegte sie sich kletternd fort und stürzte manchmal ab, ohne auch nur zu versuchen, davonzufliegen. Ich weiß von anderen Vogelarten, dass sie bestimmte Dinge nur während sehr schmaler Zeitfenster in ihrer Jugend erlernen – und was sie dann nicht können, lernen sie später nicht mehr hinzu. Bei Mia scheint es so mit dem Fliegen gewesen zu sein. Als die richtige Zeit für sie gewesen ist, hatte sie keine Federn und konnte es deshalb nicht erlernen. Als die Federn dann schließlich doch da waren, war es fürs Lernen zu spät. Das war sehr schade, denn so blieb sie zeitlebens flugunfähig, obwohl ihr Gefieder intakt war.
Trotzdem hat sie bei mir viel gelernt, wurde immer geschickter und vor allem durchsetzungsstärker. Weil sie keinen festen Partner in meinem Vogelschwarm fand, im ursprünglichen Schwarm bei meiner Freundin aber sehr viele potenzielle „Heiratskandidaten“ warteten, hieß es für mich Abschied nehmen. Im Juni 2012 zog Mia zurück in ihren „Heimatschwarm“ und lebte dort viele Jahre trotz ihrer Flugunfähigkeit ein glückliches und zufriedenes Vogelleben – natürlich mit Partner. Denn sie fand dort ihre große Liebe.