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Handaufzucht als lebensrettende Maßnahme
Das Aufziehen von Papageien, Sittichen und anderen Vögeln von Hand ist genau dann gerechtfertigt, wenn es sich dabei um eine lebensrettende oder arterhaltende Maßnahme handelt. Auch das Zufüttern kann im Einzelfall sinnvoll sein, wenn beispielsweise eine Vogelmutter ein extrem großes Gelege produziert hat und die Jungen nur unzureichend mit Nahrung versorgen kann. Hilft der Mensch in einem solchen Fall nach und päppelt die Jungtiere mit zusätzlichem Futter, ohne sie den Eltern wegzunehmen, ist die Fütterungsmaßnahme lebensrettend und im Grunde genommen keine echte Handaufzucht. In diesem Kapitel wird näher auf die einzelnen Notsituationen eingegangen, die das Eingreifen des Menschen aus ethischen Gründen rechtfertigen.
Rettung von Vogelarten
Manche Vogelarten sind derart selten geworden, dass die kostbaren Jungtiere zum Beispiel im Rahmen von Wiederauswilderungsprojekten von sehr erfahrenen Vogelpflegern von Hand großgezogen werden. Dies geschieht, um ja kein Risiko eines Verlustes einzugehen, wenn die Elternvögel beispielsweise unerfahren sind. In manchen Fällen wird dadurch, dass ihnen die Küken weggenommen werden, eine Zweitbrut „provoziert“. Es mag auf den ersten Blick grausam erscheinen, den Altvögeln ihren Nachwuchs zu entreißen, doch kann die Zahl der Nachkommen dadurch oftmals erheblich gesteigert werden. Wenn es darum geht, eine Vogelart vor dem Aussterben zu retten und die Jungen vom Menschen mit viel Sachverstand großgezogen werden, dann ist der „Verlust“ der Erstbrut für die Altvögel im Vergleich zum Erlöschen des Artbestandes das geringere Übel.
Hinzu kommt, dass manche Papageienarten so große Gelege produzieren, dass gewisse Verluste von vorne herein quasi „eingeplant“ sind. Handelt es sich dabei um vom Aussterben bedrohte Vogelarten, versuchen Tierschützer oftmals, solche Verluste zu vermeiden. Sie nehmen sich jener oftmals etwas schwachen Küken an und ziehen sie selbst groß, um ihnen eine Chance zu geben, die sie bei einer Naturbrut, also einer Aufzucht durch die Eltern, so nicht hätten.
Im Rahmen der Arterhaltungszuchtprojekte wird besonders großer Wert darauf gelegt, die jungen Vögel in der Handaufzucht nicht auf den Menschen zu prägen. Das wäre fatal, denn sie wären dann nicht für die weitere Zucht einsetzbar und könnten auch nie ausgewildert werden. Weltweit gibt es einige spezialisierte Einrichtungen, in denen hochbedrohte Papageienarten im Rahmen solcher Zuchtprojekte zum Erhalt der Art nachgezüchtet werden. Ein Beispiel hierfür ist der Loro Parque auf Teneriffa. Die mit dem Park zusammenarbeitende Stiftung, die Loro Parque Fundación, hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten die Handaufzucht von Papageien so sehr perfektioniert, dass nur sehr wenige Verluste zu beklagen sind und praktisch alle Vögel als erwachsene Tiere für die Zucht einsetzbar sind.
Rettung in Not geratener oder verwaister Jungvögel
Mitunter kommt es vor, dass ein Elternteil während der Aufzucht der Jungen schwer erkrankt oder gar stirbt. Der verbleibende Altvogel ist oft völlig überlastet und kann die Jungen nicht allein großziehen. Handelt es sich beispielsweise bei Wellensittichen um den Vater, der ohne sein Weibchen den Nachwuchs großziehen muss, ergeben sich viele Probleme. Er ist nicht von der Natur darauf „programmiert“, bei den Jungen im Nest zu bleiben und sie zu wärmen. Sehr junge Küken, die ihre Körpertemperatur noch nicht selbst regulieren können, würden dann zu sehr auskühlen. Sie sind zwingend auf ihre Mutter oder auf Unterstützung durch den Menschen angewiesen. Aber auch wenn die Mutter allein übrig bleibt, kann es problematisch werden. Denn sie kann sehr jungen Nachwuchs nicht allein lassen, um Futter zu beschaffen – diese Rolle übernimmt normalerweise der Vater. Fällt dieser aus, steht die Mutter vor einer enorm großen Herausforderung, um sich selbst und die Küken mit Nahrung zu versorgen, ohne dass der Nachwuchs im Nest zu sehr auskühlt.
Hilfestellungen durch den Menschen sind hier möglich. Entweder hilft eine Zufütterung oder einige Tiere müssen in die Handaufzucht genommen werden, damit sie nicht verhungern. In einem solchen Fall ist die Handaufzucht meist wenig problematisch, weil in aller Regel keine einzelnen Jungtiere gepäppelt werden, sondern gleich mehrere, die unter ihresgleichen soziale Kontakte pflegen. Das Risiko der Fehlprägung auf den Menschen ist bei ihnen zwar trotzdem gegeben, aber ein umsichtiger Pfleger wird dies zu verhindern wissen, indem er oder sie sich beispielsweise unmittelbar nach jeder Fütterung entfernt und die Tiere in Ruhe lässt. Oft sind dann auch die verbliebenen Elternteile noch zur Stelle und kümmern sich mit um den Nachwuchs.
Ich habe selbst schon Vögel jeweils einige Tage lang von Hand aufgezogen und streng darauf geachtet, dass keine Fehlprägung eintritt. Im Fall von Rohanna, einem Wellensittichweibchen, ist das genaue Gegenteil „gelungen“: Sie lebte nach einigen Tagen Fütterung von Hand in meinem Vogelschwarm und war nach dem Einzug ins Vogelzimmer mir gegenüber kein bisschen zutraulich. Das ist gelungen, weil ich sie lediglich gefüttert, aber nicht „verhätschelt“ habe. So etwas fällt schwer, weil junge Vögel sehr niedlich sind, aber es ist zu ihrem Besten, so viel Abstand wie möglich zu wahren.
Zutraulich ja, fehlgeprägt nein
Es ist keineswegs verwerflich, wenn ein Vogel, der von Hand aufgezogen wurde, den Menschen als etwas Positives wahrnimmt und sich mit ihm anfreundet. Solange dabei ein normales Maß an Freundschaft entwickelt wird, das nicht so weit geht, die eigenen Artgenossen nicht mehr zu erkennen, ist dagegen nichts einzuwenden. Das heißt im Klartext: Wenn ein Vogel lediglich zutraulich beziehungsweise zahm ist, dann ist das völlig in Ordnung. Auf den Menschen (sexuell) fehlgeprägt sollte er aber auf gar keinen Fall sein.
In meinem Vogelschwarm haben schon mehrere Wellensittiche gelebt, die mehr oder minder lang in der Handaufzucht waren und dem Menschen sehr zugewandt waren. Trotzdem waren sie Wellensittiche durch und durch, sie sahen in ihren Schwarmmitgliedern die echten Partner und eben nicht in mir oder anderen Menschen. Diese Zutraulichkeit den Menschen gegenüber bei gleichzeitiger normaler sozialer Einbindung in den Vogelschwarm ist ein angenehmer Zustand. Vögel, für die dies gilt, sind sehr angenehme Mitbewohner, weil sie besonders gut zu handhaben sind. Sie sind meist nicht ängstlich, vertrauen dem Menschen und beschäftigen sich vorübergehend gern mit ihm, hängen aber nicht wie „Kletten“ an ihm.