Schnabelabszess und seine Folgen

Achtung: Die auf Birds-Online.de angebotenen Texte und Bilder rund um das Thema Erkrankungen von Vögeln sind als Informationsquelle gedacht. Bitte bringen Sie Ihre erkrankten Vögel immer schnellstmöglich zu einem fachkundigen Tierarzt!

Text und Bilder von Tanja Liebers, April 2020

Gretchen (links) und Jonny, als die Vogeldame noch völlig gesund war.
Gretchen (links) und Jonny, als die Vogeldame noch völlig gesund war.

Gretchen kam im Dezember 2011 als Partnerin für unseren Hansi zu uns, nachdem unser Julchen im Alter von 16 Jahren ins Hirseland geflogen war. Laut Vorbesitzer war Gretchen im Januar 2010 geschlüpft. Sie war damals nicht zahm und ist es bis heute nicht, was die später notwendige Behandlung nicht immer leicht macht(e).

Im Januar 2017 fiel mir auf, dass Gretchens Schnabel irgendwie komisch aussah. Er war länger und wuchs von rechts seitlich nach links. Ich machte also einen Termin bei unserem Tierarzt aus. Dieser kürzte den Schnabel und brachte ihn mit einer Art Zange wieder in Form. Auch strich er ein wenig Paraffinöl auf den Schnabel, ohne weiter dazu etwas zu sagen. Heute weiß ich, dass man das macht, um gegen Räudemilben zu behandeln. Dass er Hinweise auf diese Parasiten entdeckt hätte, sagte er allerdings nicht.

Seine Diagnose lautete damals: tumoröses Schnabelwachstum. Und sein Therapievorschlag war:
Alle paar Monate mal den Schnabel kürzen.

Gretchens Schnabel wuchs schief und anfangs wurde leider eine falsche Diagnose gestellt.
Gretchens Schnabel wuchs schief und anfangs wurde leider eine falsche Diagnose gestellt.

Nun, drei Wochen später waren wir wieder in der Praxis. Der Schnabel war viel schneller gewachsen als gedacht. Irgendwann waren wir alle zwei Wochen mit Gretchen beim Arzt und ich fing an, mir Gedanken zu machen.

Interessant ist vielleicht, dass ich zu der Zeit weder Mitglied einer Facebook-Wellensittichgruppe war, noch mich über das Schnabelproblem im Internet informiert habe. Zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich nicht einmal auf die Idee gekommen bin. Denn ich vertraute unserem damaligen Tierarzt … 🙁

Inzwischen gehen wir nicht mehr dorthin. Zu unserem neuen Tierarzt kam ich eigentlich nicht wegen Gretchen. Ich hatte ein krankes Kaninchen, welches unser Stammtierarzt nicht zufriedenstellend behandelte. Nach über 30 Jahren bei ihm war ich unzufrieden. Unser neuer Tierarzt ist eigentlich Vogelspezialist, er kennt sich aber eben auch super mit Kaninchen aus und ist in Bezug auf sie eine Art Geheimtipp.

Da ich bei dem neuen Tierarzt mit der Behandlung unseres Kaninchens sehr zufrieden war, beschloss ich, ihm auch unser Gretchen vorzustellen. Zum Glück! Es war der 7. Juli 2017 und Dr. Zinke schlug bei Gretchens Anblick wortwörtlich die Hände über dem Kopf zusammen. So etwas, sagte er, habe er in seiner gesamten Laufbahn als Vogeltierarzt noch nicht gesehen. Und er erklärte mir: Das vermeintliche tumoröse Schnabelwachstum war in Wahrheit ein dicker Abszess.

Wir hatten schon sehr viel Zeit verloren und Gretchen wurde deshalb sofort operiert. Ich durfte dabei bleiben. Es zeigte sich, dass der Abszess bereits unmittelbar vor dem Gehirn angelangt war. Für Gretchen bestand Lebensgefahr, wir waren buchstäblich um 5 vor 12 mit ihr bei Dr. Zinke! Er erklärte mir später die Situation in Gretchens Kopf an einem Model eines Vogelschädels. Das war schon sehr heftig. Nun war der Ausgang ungewiss, Gretchens Leben stand weiterhin auf der Kippe.

Aber Dr. Zinke nahm auch unseren früheren Tierarzt ein wenig in Schutz. Die Erkrankung war einfach zu komplex und ungewöhnlich für einen normalen Kleintierarzt. Ankreiden könnte man ihm nur, das er herumgedoktert habe, anstatt uns zu einem Facharzt zu schicken. Hier sieht man wieder, dass man als Vogelhalter wirklich besser gleich einen Facharzttermin vereinbaren sollte!

Gretchen (unten links) hatte lange Zeit einen schiefen und später sogar mit einem Loch durchsetzten Oberschnabel.
Gretchen (unten links) hatte lange Zeit einen schiefen und später sogar mit einem Loch durchsetzten Oberschnabel.

Nun gut, Gretchen bekam jetzt erst einmal Antibiotika und ich musste das Loch im Schnabel spülen. Anfangs sollte ich das Medikament nur durch das Loch in den Schnabel laufen lassen. Später spülte ich mit Kochsalzlösung. Unser Tierarzt zeigte mir genau, wie ich es machen sollte. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass wir ein gutes Stück zu ihm fahren müssen. Eine Tägliche Behandlung durch ihn fiel also aus und ich musste das übernehmen. Wenn man will, dann lernt man auch, eine nicht zahme, widerspenstige Wellidame zweimal am Tag zu fangen, ihr dann das Antibiotikum zu verpassen beziehungsweise das Loch im Schnabel zu spülen.

So vergingen Monate. Es stellte sich mit der Zeit heraus, dass der Schnabel an der linken Seite nicht mehr wuchs. Rechts wuchs er und schob sich zum Teil auch über das Loch. Zwischendurch sah es wirklich sehr gut aus. Das Loch verschloss sich sogar mit Schnabelhorn, das von rechts drüber wuchs. Aber dann löste sich doch immer wieder etwas und das Loch war erneut da.

Dr. Zinke erklärte es so, dass in der Tiefe nach wie vor abgestorbener Gewebe war, welches der Wellensittichkörper abstieß. Wie tief es letztendlich wirklich gehe, könne man nicht zuverlässig sagen, es blieb nur abwarten.

Zeitweise spülte ich, zeitweise sollte ich Gretchen in Ruhe lassen. Ich verhielt mich immer so, wie Dr. Zinke es mir sagte. Auch lernte ich von ihm, den Schnabel selbst vorsichtig zu kürzen, weil dieser doch sehr stark wuchs und schnell nach links überstand, was Gretchen störte.

Interessant ist sicherlich, dass unsere Wellidame vom Schwarm stark behütet wurde. Insbesondere Jonny und Baby kümmerten sich sehr lieb um die kleine Patientin, fütterten sie ausgiebig und kuschelten auch mit ihr. Gretchen wirkte die ganze Zeit glücklich und zufrieden.

Unser monatlicher Check-up beim Tierarzt war längst Routine geworden. Bei Dr. Zinke schimpfte Gretchen immer wie ein Rohrspatz. Das Saubermachen des Schnabels war und ist doof. Aber insgesamt ging es ihr gut, und das über eine sehr lange Zeit.

Am 10. Dezember 2018 löste sich dann plötzlich ein großes Stück innerhalb des Schnabels. Dr. Zinke musste ziemlich ausgiebig operieren, um das abgelöste Fragment herauszubekommen. Wieder durfte ich dabei sein. Nach dem Eingriff war das Loch in Gretchens Schnabel so groß wie noch nie zuvor. Aber unser Tierarzt war trotz allem sehr zuversichtlich. Und er sagte: „Das war jetzt die erste Schicht des Schädelknochens.“ Zum Glück ist dahinter eine zweite Wand, und erst dahinter liegt das Gehirn. Er zeigte es mir wieder an dem Vogelkopfmodel.

„Mit etwas Glück haben wir es jetzt geschafft und der Körper kommt zur Ruhe und alles abgestorbene Gewebe ist raus“, erklärte Dr. Zinke. Er merkte auch an, dass es heftiger aussehe, als es letztendlich für Gretchen war. „Eigentlich sollte es ihr jetzt so gut gehen wie lange nicht mehr“, war er überzeugt. Das wäre so schön gewesen!

Unmittelbar nach dieser Operation gab es nach einer Woche eine Kontrolle, es sah alles soweit gut aus. Natürlich gingen wir auch anschließend weiterhin regelmäßig alle vier Wochen zur Kontrolle und Gretchen ging es gut – bis zu der verhängnisvollen Nacht vom 4. auf den 5. März 2019 …

Schockierende Entdeckung in der Nacht: Gretchen hatte ihren gesamten Oberschnabel verloren.
Schockierende Entdeckung in der Nacht: Gretchen hatte ihren gesamten Oberschnabel verloren.

Ich weiß nicht einmal mehr, weshalb ich nachts um 3 Uhr im Kaninchen- und Welli-Zimmer war. Routiniert zählte ich, wie immer, die Kaninchen und Wellis durch, um zu schauen, ob alle soweit fit wirken. Gretchen sah irgendwie seltsam aus. Es dauerte einen Moment, bis ich tatsächlich realisierte, was ich da sah: Ihr fehlte der komplette Oberschnabel! Schnabellos schaute sie mich an und mein Herz rutschte ganz tief in die Hose. Fast zwei Jahre Behandlung – und jetzt das!

Kopflos wollte ich erst zum Notdienst fahren. Aber mir war sofort klar, dass man sie dann wahrscheinlich einschläfern würde. Also wartete ich, bis am Morgen Dr. Zinkes Praxis öffnete. Ich kann nicht in Worte fassen, was in dieser Nacht in mir vorging.

Am 5. März 2019 postete ich nach dem Tierarztbesuch auf Facebook in einer Wellensittich-Handicap-Gruppe Folgendes:

Hallo Ihr Lieben!!!

Ich brauche dringend HILFE für unser Gretchen.

Zuerst meine Fragen:

Nudeln welche? Mit Ei oder ohne?
Welche Form, Spiralen und klein machen?
Wie lange kochen?

Reis, ruhig aus dem Kochbeutel?

Hirse ohne Spelz (Schale) haben wir gerade bei dm gekauft.
Gibt es da noch anderes Geschältes, was ich anbieten kann?

Gretchen ist schon seit 2 Jahren mit ihrem Schnabel beim Vogel-Tierarzt in Behandlung.
Sie hatte einen Abszess am Schnabel Richtung Gehirn, den unser normaler Tierarzt nicht erkannt hat. Somit haben wir wertvolle Zeit verloren, bis wir beim Vogel-Tierarzt waren.

Damals wurde der Abszess ausgeräumt und mit Antibiotika behandelt.
Außerdem sind wir regelmäßig zum Reinigen da.
Links wuchs der Schnabel nicht mehr, aber die rechte Seite wuchs nach links rüber.

Vor etwa drei Monaten löste sich ein Teil vom Schädelknochen, welcher sich nach vorne rausschob.

Letzte Nacht hat dann der Körper den Schnabel komplett abgestoßen. Gestern am Nachmittag war er noch dran.

Wir haben gleich heute Morgen Kontakt zu unserem Tierarzt gesucht und sind losgefahren.
Das Ganze wurde gereinigt.

Gewicht ist zur Zeit gut. Jonny füttert sie auch schon immer sehr lieb.

Nur kann sie jetzt quasi gar nicht mehr selber fressen. Der Tierarzt sagte uns, wir sollen zusätzlich zum normalen Futter Hirse ohne Spelz, gekochte Nudeln und Reis anbieten.

Ob der Schnabel rechts wieder wächst, müssen wir abwarten.

Kommenden Montag ist unser regulärer Termin beim Tierarzt. Sollte das mit der Nahrung nicht ausreichend funktionieren, müssen wir sie leider gehen lassen. Das möchten wir natürlich nicht!

Gretchen lebt in einem Schwarm mit 8 Wellensittichen und ist bisher trotz ihres Handicaps die Chefin im Schwarm.

Ein Foto nach dem Tierarzt Besuch habe ich noch nicht gemacht. Wir sind noch unterwegs nach Hause. Es sieht auch wirklich heftig aus.

Ich zeige Euch ein Foto, wo der Schnabel noch dran ist. Gretchen mit ihrem Jonny.

Ich bin dankbar für Tipps!!!!!

Nach dem Verlust ihres Oberschnabels lag auch Gretchens Nase von unten frei.
Nach dem Verlust ihres Oberschnabels lag auch Gretchens Nase von unten frei.

Zu diesem Zeitpunkt nahm ich wegen Gretchen dann auch Kontakt zu der lieben und tollen Gaby hier von Birds-online.de auf.

Ich möchte an dieser Stelle gerne etwas sagen:
Ich bin und war so dankbar für ihre Hilfe und Tipps!
Diese Unterstützung war extrem wichtig für mich, weil ich das Gefühl bekommen habe, es ist machbar! Gretchen kann lernen, auch ohne oberen Schnabel zu fressen. Es ist noch nichts verloren!

Ihre Tipps waren: Kein Reis, der ist meist zu sehr mit Arsen belastet. Gekochte Nudeln sind OK, Hirse ohne Schale ist gut, gegebenenfalls Päppelbrei/Eifutterbrei versuchen.

Ich suchte erst hier im Tierbedarfsgeschäft.

Aber da gab es nur Aufzuchtfutter für Küken, also Eifutter. Das ist nicht richtig, es muss Handaufzuchtfutter sein. Also suchte ich im Internet und bestellte einen entsprechenden Brei. Leider nahm Gretchen ihn nicht an, weder vom Tellerchen noch wenn ich ihn direkt ins Mäulchen gab. Nudeln rührte sie auch nicht an.

Ich raspelte und schredderte, was mir einfiel: Gurke, Möhre, Äpfel, Salat, Kräuter. Sie ging nicht dran. Ich drücke eine Scheibe Gurke in Hirse ohne Schale und hoffte, dass sie die nehmen würde. Und dann sah ich es, sie schabte mit dem unteren Schnabel tatsächlich die Hirse von der Gurkenscheibe! Das klappte auch mit Apfel. Außerdem wurde sie von ihren Gefährten gut gefüttert, hauptsächlich von Jonny, aber auch von Baby. Ich kann nicht in Worte fassen, wie vorsichtig glücklich ich in dem Moment war!

Mit einem derart schweren Schnabeldefekt können Vögel nicht mehr wie gewohnt Nahrung zu sich nehmen.
Mit einem derart schweren Schnabeldefekt können Vögel nicht mehr wie gewohnt Nahrung zu sich nehmen.

Mittlerweile ist das alles rund ein Jahr her. Gretchen hat gelernt, ihre Hirse auch vom Teller zu fressen. Sie frisst außerdem Kräuter, Gurke, Apfel; eigentlich kann sie fast alles fressen. Mit dem unteren Schnabel schabt sie es los und lässt es sich schmecken. Kräuter rupft sie sogar ab, Salat ebenso.

Leider kann ich nicht so nahe an sie heran, um das wirklich mal richtig fotografieren oder filmen zu können. Sie scheint es mit der Zunge und dem unteren Schnabel abzuzupfen. Außerdem wird sie nach wie vor gut gefüttert. Alle Herren lieben sie und stehen Schlange, und ab und zu wird sich sogar um ihre Gunst „geprügelt“. Scheinbar ist „mitohne“ Schnabel hübsch? Jedenfalls finden unsere fünf Jungs sie alle toll! Und die anderen Hennen schauen zum Teil buchstäblich etwas in die Röhre.

Wir sind weiterhin alle vier Wochen bei Dr. Zinke. Gretchens „Nichtmehr-Schnabel“ muss gereinigt werden. Ihr Körper produziert nach wie vor Nasensekret, und das bildet mit Staub aus der Umwelt eine schmutzige Schicht. Dieser Dreck muss sozusagen weggemacht werden. Auch wächst der untere Schnabel weiter und muss regelmäßig gekürzt werden.

Gretchen (links) mit ihrem Freund Baby.
Gretchen (links) mit ihrem Freund Baby.

Mittlerweile merkt man unserem Gretchen ihre 10 Jahre an. Letztes hatte sie beim Tierarzt eine Art Kreislaufzusammenbruch und wurde reanimiert. Zu Hause wäre das sicherlich nicht so glimpflich ausgegangen. Danach ging es ihr wieder gut und auch das Herz schlug ganz regelmäßig. Unsere Zeit miteinander ist sicherlich gezählt.

Zurückblickend kann ich nur sagen, dass ich es genau so wieder machen würde – abgesehen davon, dass ich natürlich sofort zum Spezialisten für Vögel gehen würde. Auch wenn es noch so schwierig erscheint, man sollte jedem Tier die Chance auf das Leben geben. Aufgeben und Einschläfern kann man nur einmal! Davon gibt es kein Zurück! Ich bin froh, nicht aufgegeben zu haben!