Isobella
Hallo, liebe Vogelfreunde,
mein Name ist Isobella (früher hieß ich Paula) und ich möchte Euch gern meine Geschichte erzählen. Einst habe ich mit sehr vielen anderen Wellensittichen in einer Wohnung gelebt. Der Mann, bei dem wir wohnten, mochte uns sehr, aber wir waren zu viele. Er konnte sich nicht um jeden von uns kümmern. Seine Nachbarn waren irgendwann böse auf ihn, weil wir zu laut zwitscherten. Aus diesem Grunde mussten wir ausziehen. Die meisten zogen zu anderen Züchtern. Ich war ganz erschrocken, als plötzlich fast 160 meiner Gefährtinnen und Gefährten verschwunden waren. Na ja, alle kannte ich nicht so richtig persönlich, wenn ich ehrlich sein soll. Ich bin schüchtern und eher ruhig, deshalb habe ich mich nicht mit jedem anderen Vogel näher befasst. Manche von denen waren mir viel zu draufgängerisch.
Ich gehörte am Ende zu einer Gruppe von 43 Vögeln, die von Tierschützern übernommen wurden. Die meisten aus unserer Gruppe waren schwer krank. Ich bin in dieser Gruppe der Übriggebliebenen gelandet, weil ich früher bei einem Unfall eine Kralle am rechten Fuß verloren hatte und weil mein Gefieder ganz stumpf war. In der Quarantänestation war ich mit zehn meiner Freunde in einer Voliere untergebracht, die anderen aus der 43er-Gruppe wohnten im selben Raum in weiteren Käfigen. Zum Glück ließen mich die zehn Gefährten meist ganz in Ruhe. Das war auch gut so, ich brauchte nämlich sehr viel Schlaf. Früher wurde ich immer unheimlich schnell müde und war ganz schlapp.
Die Zeit verging, und eines Tages konnte ich plötzlich kaum noch etwas essen, weil mein Kropf so furchtbar wehtat. Ich hatte Hunger, aber sobald ich etwas gegessen habe, wurde mir schlecht und ich musste mich übergeben. Lucy, einer meiner Schwarmgefährtinnen, ging es genauso. Wie ich wohnte sie in der Voliere und auch ihr war ständig speiübel. Wir saßen abseits der anderen Vögel und schliefen den ganzen Tag. Unser verklebtes Gefieder war es, das den Blick einer Frau auf uns zog, die sofort beschloss, dass wir zum Arzt gebracht werden müssen.
Sie zögerte nicht lange, fing uns ein und brachte uns zu einer Tierärztin. Erst wurde Lucy untersucht. Sie schrie vor Angst, als sie eine Spritze bekam. Ich war darüber so schockiert, dass ich wie angewurzelt in dem Transportkäfig stand und mich nicht rührte, bis plötzlich eine Hand nach mir griff. Vor lauter Schreck bekam ich Herzrasen und dann blieb mir die Luft weg. Ich konnte nicht mehr atmen und mir wurde schwarz vor Augen. Alles, was danach im Behandlungszimmer der Tierärztin mit mir geschah, habe ich nicht mehr mitbekommen.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden eines Käfigs, der in einem ruhigen, warmen Zimmer stand. Neben mir saß Lucy, sie war ganz verstört und kuschelte sich an mich. Wo wir gelandet waren, konnte auch sie mir nicht sagen. Meine arme Freundin konnte kaum piepsen, weil ihr Kropf so sehr geschwollen war und ihr Schmerzen verursachte. Vorsichtig schaute ich mich um. Alles sah ganz friedlich aus und vor uns auf dem Käfigboden lag halb reife Hirse. Zaghaft habe ich daran geknabbert und sie bekam mir gut. Lucy wollte nichts essen, sie wollte nur schlafen. Mir war leider noch immer ein wenig schwindelig, ich konnte nicht einmal richtig geradeaus laufen. Die Frau, die sich um uns kümmerte, versorgte uns regelmäßig mit Medikamenten, die wir direkt in den Schnabel eingegeben bekommen haben.
Nach ein paar Tagen ging es uns beiden wieder einigermaßen gut. Mein Kropf tat nicht mehr weh und ich konnte wieder leichter atmen. Auch wurde mir nicht mehr so oft schwindelig und ich fühlte mich viel frischer, brauchte weniger Schlaf. Wie ich inzwischen erfahren hatte, leide ich an einem Herzfehler. Diese Herzschwäche war ganz besonders schlimm geworden, als ich obendrein eine Kropfentzündung bekommen hatte. Beinahe wäre ich in der Tierarztpraxis gestorben, weil mein Herz so unregelmäßig geschlagen hat. Ich war bewusstlos und habe von der Aufregung um mich herum nichts mitgekommen, als die Menschen bemerkten, wie erschreckend dünn der Faden war, an dem mein Leben hing. Was für ein Glück, dass sie wussten, wie man mir helfen konnte. Sonst würde ich wohl jetzt nicht mehr unter den Lebenden weilen …
Unsere Futtergeberin, die uns seit Wochen pflegte, war sehr vorsichtig im Umgang mit Lucy und mir. Sie gab sich große Mühe, vor allem mich nicht zu erschrecken, weil mein Herz so schwach ist. Aber die Medikamente, die ich jeden Tag bekommen habe, ließen mein Herz viel kräftiger werden. Bald war ich so fit, dass ich noch einmal zum Arzt gebracht werden konnte; auch Lucy war dabei. Wir waren beide in der Zwischenzeit ganz gesund geworden, hat der Arzt herausgefunden. Allerdings würde ich mein Leben lang Herzmedikamente einnehmen müssen, das sei bei der Vermittlung ins neue Zuhause unbedingt zu berücksichtigen, sagte der Mann.
Vermittlung? Neues Zuhause? War ich etwa noch gar nicht in meinem richtigen neuen Zuhause gelandet? War es etwa das falsche Zuhause und wenn ja, warum? Es ging mir doch so gut bei dieser Frau! Diese Gedanken waren es, die mich bewegten. Lange grübeln konnte ich aber nicht, denn die Frau sorgte dafür, dass ich erst einmal andere Dinge „regeln“ musste. Weil wir gesund waren, ließ sie uns zu ihren anderen Vögeln in ein großes Freiflugzimmer – bis zur Vermittlung, sagte sie.
Wir waren erst wenige Tage dort und ich hatte damit begonnen, mich mit den vielen anderen netten Vögeln anzufreunden. Übrigens traf ich dort eine alte Bekannte aus meinem Zuhause bei dem Mann wieder: Brunhilde war auch im Vogelzimmer! Es ging mir so gut wie schon lange nicht mehr und es hätte so ein schöner Tag werden können. Aber dann änderte sich schlagartig alles, weil etwas Schreckliches geschah …
Meine treue Freundin Lucy war urplötzlich völlig erschöpft. Sie flog auf den Boden und schleppte sich mit letzter Kraft in eine ruhige Ecke des Zimmers. Ich war ganz besorgt, was war nur mit ihr los? Sie sagte kaum noch etwas und starb vor meinen Augen. Einfach so war sie nicht mehr am Leben. Lucy lag auf dem Boden, als würde sie schlafen. Ich konnte es kaum begreifen, stand ganz dicht neben ihr und konnte meinen Blick ich nicht von ihr abwenden. Entsetzt und wie versteinert war ich.
So fand uns die Futtergeberin vor, als sie ins Vogelzimmer kam. Sie schob mich behutsam zur Seite (eigentlich lasse ich mich nie von Menschen berühren) und hob Lucys sterblichen Überreste vorsichtig auf. Ganz furchtbar traurig wirkte sie, als sie aus dem Zimmer ging. Danach habe ich meine liebe Freundin Lucy nie wieder gesehen …
„Isobella, Du darfst für immer bleiben.“ – Eines Morgens waren das die Worte, mit denen mich die Futtergeberin weckte. Ich hatte mich in all den Wochen bestens im Vogelschwarm eingelebt und mag die anderen Vögel sehr. Keiner ist wie Lucy, aber ich habe neue Freunde gefunden. Viele neue Freunde. Der leuchtend blaue Nik hat mich sogar schon mal angebalzt, aber nur halbherzig, weil seine Frau Niobe zugeguckt hat und gar glücklich über sein „Fremdflirten“ war. Charly hat mich vor ein paar Tagen gefüttert. Er füttert jede Henne und sagt, er hat uns alle lieb. Und ich habe die Vögel hier auch alle lieb.
Nur auf Himalia bin ich nicht gut zu sprechen. Jetzt, wo mein Herz endlich stark genug geworden ist, hat mein Körper gemeint, es sei Zeit für eine Mauser. Richtig tolle, glänzende Federn sind mir gewachsen. Und was macht die dreiste Himalia? Sie hat mir meine wunderschöne neue, herrlich dunkelblaue Schwanzfeder ausgerissen! Dieses Biest! Jetzt warte ich darauf, dass ich eine neue bekomme. Und an die lasse ich Himalia sicher nicht mehr herankommen!
Eure Isobella
Autorin des Textes: Gaby Schulemann-Maier, 16.2.2006
Nachtrag
Im Juni 2007 erkrankte Isobella schwer. Eine Operation sollte ihr Leben retten, aber leider zeigte sich bei dem Eingriff, dass ihre inneren Organe zu sehr angegriffen waren, als dass ein Weiterleben möglich gewesen wäre. Sie starb am 26.6.2007 und hinterließ eine große Lücke in meinem Vogelschwarm.