Sandmagen
In Bezug auf einige Heimvogelarten wie Wellensittiche ist in Internetforen oder Facebook-Gruppen mitunter die Rede von einem sogenannten Sandmagen. Eine übermäßige Aufnahme von Sand und Grit im Verdauungstrakt der Vögel soll angeblich dazu führen, dass die betroffenen Tiere letztlich verhungern und somit wegen der Steinchen im Körper sterben. Deshalb warnen sogar manche Ratgeber davor, Sand in den Käfig zu streuen und raten pauschal davon ab, Grit zu reichen.
Wer diese Ratschläge befolgt und konsequent darauf verzichtet, seinen Vögeln Sand und Grit anzubieten, mag zwar dadurch die Entstehung eines Sandmagens verhindern. Allerdings riskiert er, dass seine Tiere an schweren Verdauungsstörungen zu leiden beginnen. Wellensittiche und viele andere Vogelarten benötigen kleine Magensteine, also Grit und/oder Sand, um ihre Nahrung zu verdauen, siehe Anatomie-Kapitel über den Verdauungstrakt. Besteht für sie keine Möglichkeit, solche Steinchen aufzunehmen, kann dies auf die Dauer zu Erkrankungen des Muskelmagens und damit zu lebensbedrohlichen Verdauungsstörungen führen. Außerdem nehmen die Vögel mit dem Grit Mineralstoffe zu sich, die ihnen fehlen würden, wenn sie diese kleinen Verdauungssteinchen nicht vorfinden würden.
Anstatt also blindlings auf die oben geschilderten Warnhinweise zu vertrauen, sollte man das Thema „Sandmagen“ lieber einmal grundlegend überdenken und sachlich betrachten. Hierfür hilft ein Blick auf das Verhalten wild lebender Wellensittiche in ihrer australischen Heimat. Dort steht den Vögeln permanent jede Menge Sand zur Verfügung, sie leben im Outback, dessen Boden praktisch überall mit Sand bedeckt ist. Wäre Sand für Wellensittiche so extrem gefährlich, hätte die Art in Australien nicht überleben können, denn auch wilde Wellensittiche fressen Sand und kleine Steinchen.
Außerdem sollte man sich vor Augen führen, welche Selbsthilfemaßnahmen ein Vogel instinktiv ergreift, wenn er spürt, dass sein Verdauungsapparat nicht reibungsfrei arbeitet. Woran es ein Vogel feststellt, dass seine Verdauung nicht optimal funktioniert, darüber können wir nur spekulieren. Da Vögel als empfindsame Lebewesen sehr wahrscheinlich dazu in der Lage sind, Schmerzen und Unwohlsein zu spüren, signalisiert ihnen vermutlich ein Druckgefühl oder ein „Magengrummeln“, dass ihre Verdauung gestört ist. Befinden sich zu wenige Magensteine in ihrem Muskelmagen, liegt ihnen die Nahrung sicherlich ähnlich „schwer im Magen“ wie uns Menschen zu fettiges Essen. Ihr Instinkt sagt den Vögeln, dass sie sich Linderung verschaffen können, indem sie die Verdauung unterstützen – und dazu benötigen sie Magensteine. Folglich werden die Tiere Grit und/oder Sand schlucken, um sich selbst zu helfen.
Leider weiß ein Vogel nicht, ob ihm tatsächlich einfach nur Magensteine fehlen oder ob sich in seinem Verdauungstrakt ein Krankheitserreger ausgebreitet hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach verursachen die meisten Magen-Darm-Erkrankungen ähnliche unangenehme Empfindungen wie „schwer im Magen“ liegende Nahrung. Aus diesem Grunde nehmen etliche Vögel, die zum Beispiel an einer Pilzinfektion oder einer bakteriellen Infektion des Verdauungstraktes (Kropf, Magen, Darm) leiden, nicht selten vermehrt Sand und/oder Grit auf.
Das bedeutet im Umkehrschluss: Nicht der Grit und der Sand führen zum Sandmagen, denn ein gesunder Vogel, der kein unangenehmes „Bauchgefühl“ verspürt, wird wohl eher nicht zu viele Magensteine schlucken, denn das widerspräche seinem natürlichen Instinkt, nur so viele Steinchen wie nötig zu sich zu nehmen. Warum aber wird so häufig behauptet, dass Sand und Grit einen Vogel krank werden lassen können? Ganz einfach: Hier wird die eigentliche Ursache übersehen. Nicht der Sand und der Grit sind das Problem, sondern eine Grunderkrankung, die die Vögel dazu veranlasst, sehr viel Sand und Grit zu fressen, um sich selbst zu helfen. Zu den möglichen Auslösern für ein ausgeprägtes Unwohlsein und einen damit verbundenen gesteigerten Verzehr von Grit und/oder Sand gehören neben Bakterien und Pilzen auch verschluckte Fremdkörper wie Kunststoffteile, Parasiten wie Spulwürmer oder Trichomonaden, Vergiftungen oder Tumorerkrankungen.
Ich selbst habe bereits einige verstorbene Vögel untersuchen lassen, um die jeweilige Todesursache zu klären. Die meisten Vögel waren an einem Tumor oder einer Herz-Kreislauf-Erkrankung gestorben. Bei keinem dieser Vögel wurde ein Sandmagen festgestellt. Ein Vogel, der als einziger aufgrund eines Drüsenmagentumors gestorben war, hatte hingegen Unmengen Grit und Sand gefressen. Der Tierarzt teilte meine Ansicht, dass sich das Tier in seiner Not selbst helfen und die Verdauung unterstützen wollte, indem es vermehrt Sand und Grit gefressen hatte. Woher hätte der Vogel denn auch wissen sollen, dass er in Wahrheit an einer tumorösen Veränderung des Magens litt?
Aufgrund der in diesem Kapitel geschilderten Zusammenhänge halte ich es für nicht ratsam, Wellensittichen und anderen Heimvögeln Grit und Sand vollständig und dauerhaft zu entziehen, um dem Entstehen eines Sandmagens vorzubeugen. Viel mehr sollte man den Vögeln immer zumindest Grit zur Verfügung stellen, damit ihre Verdauung optimal laufen kann und sie mithilfe dieser Verdauungssteinchen Mineralstoffe zu sich nehmen können. Sobald man ein Tier dabei beobachtet, wie es vermehrt Grit und/oder Sand schluckt, sollte man es sicherheitshalber einem Tierarzt vorstellen und auf eine Erkrankung des Verdauungstraktes untersuchen lassen. Dafür stehen dem Arzt verschiedene Untersuchungsmethoden zur Verfügung, zum Beispiel die Analyse von Abstrichen oder Kotproben sowie Röntgenuntersuchungen und vieles mehr.
Findet der Tierarzt die eigentliche Ursache für die Verdauungsbeschwerden des Vogels heraus und ist sie therapierbar, kann man in Absprache mit dem Veterinär vorübergehend Sand und Grit entfernen, bis sich das Fressverhalten des Vogels nach der Abheilung seiner Grunderkrankung wieder normalisiert hat.