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Fiorella, das kleinwüchsige Energiebündel
In den meisten Fällen sind körperliche Einschränkungen bei Vögeln auf Verletzungen oder schwere Erkrankungen zurückzuführen. Bei dem Katharinasittichweibchen Fiorella ist der Grund für ihre anatomischen Auffälligkeiten unbekannt – und weil sie ein Tierschutzfall ist, können der frühere Halter und der Züchter hierzu nicht einmal befragt werden. Sie sind mir beide leider nicht bekannt. Deshalb kann ich nur Vermutungen darüber anstellen, wie es zu Fiorellas erheblichen Deformationen gekommen ist. Sie hat schiefe Füße, die auf einen Nährstoffmangel während des Wachstums hindeuten – hierdurch kann die sogenannte Rachitis entstehen. Gehen und vor allem Klettern fallen der Vogeldame deshalb schwer. Doch damit nicht genug. Ihre Schultergelenke sind ebenfalls leicht deformiert. Somit ist Fiorellas Flugfähigkeit beeinträchtigt. Sie kann zwar ein wenig fliegen, aber es strengt sie sehr an, sich in der Luft zu halten. Außerdem verliert sie rasch an Höhe und ich vermute, dass sie obendrein Schmerzen bei bestimmten Bewegungsabläufen hat. Denn oft „jammert“ sie nach dem Landen und schüttelt ihre Flügel durch.
Das wohl Bemerkenswerteste an Fiorellas Körperbau ist aber ein anderes Detail. Sie ist der kleinste voll ausgewachsene Katharinasittich, den ich jemals gesehen habe. Neben den normal großen Artgenossen sieht sie wie ein Winzling aus. Körperliche Deformationen und deutlich reduziertes Wachstum treten bei anderen Tierarten beispielsweise dann auf, wenn das genetische Material zu einseitig ist, sprich wenn die Individuen aus Inzucht hervorgegangen sind. Zwar gibt es dafür keine sicheren Belege, aber ich vermute, dass Fiorella aus einer Inzuchtbrut stammen könnte und wahrscheinlich deshalb die auffälligen körperlichen Einschränkungen „im Gepäck“ hat. Als sie zu mir kam, hatte sie außerdem einen stark deformierten Oberschnabel, was vermutlich auf ein Anflugtrauma, also einen Zusammenstoß mit einem harten Gegenstand, zurückzuführen war. Durch konsequente Pflegemaßnahmen und regelmäßiges Begradigen hat sich dieses Problem aber glücklicherweise innerhalb eines halben Jahres beheben lassen. Seitdem wächst ihr Oberschnabel normal und ohne Fehlstellungen.
Im Frühling 2018 war die damals namenlose Fiorella in die Obhut einer engagierten Katharinasittichhalterin gelangt, die dem Vogel aus einer Tierschutzaktion gern helfen wollte. Sie suchte nach einem behindertengerechten Zuhause für die seinerzeit etwa ein Jahr alte Vogeldame – immerhin war das ungefähre Alter bekannt. Weil ich einen Platz in meinem behindertengerecht eingerichteten Vogelzimmer frei hatte und an jenem Tag gerade ohnehin unterwegs war, um noch eine weitere Katharinasittichdame abzuholen, ging es am 16. Juni 2018 auch für Fiorella auf den Weg zu mir nach Hause. In meiner Wohnung im Ruhrgebiet angekommen, durfte sie allerdings nicht gleich ins Vogelzimmer einziehen. Erst einmal stand eine Quarantäne an und bald auch eine Untersuchung beim vogelkundigen Tierarzt. Diese war zum Glück ohne Befund, sodass die Quarantänezeit bald vorüber war. Allein war Fiorella währenddessen aber ohnehin nicht, denn das zweite am selben Tag adoptierte Weibchen namens Carmen leistete ihr Gesellschaft. Die beiden Damen hatten sich ein wenig angefreundet und waren einander eine Stütze, als sie gemeinsam ins Vogelzimmer einziehen durften.
Vor allem Fiorella war zunächst etwas eingeschüchtert und hatte ein wenig Angst vor den anderen dort lebenden Vögeln, darunter neben meinen weiteren Katharinasittichen auch Wellensittiche und Diamanttäubchen. Am schwierigsten war es für Fiorella, die Gegend zu erkunden. Fliegen kann sie wie bereits erläutert nicht sonderlich gut und auch das Klettern fällt ihr nicht leicht. Deshalb rutschte sie an manchen Stellen ab und trudelte flatternd zu Boden. Es dauerte ein paar Tage, bis sie die Kletterrampen für sich entdeckt hatte, die flugbehinderten Vögeln mit Fußfehlstellungen einen sicheren Halt beim Emporsteigen bieten. Mit der Zeit wurde sie immer geschickter, was ihrem Selbstbewusstsein guttat. War sie anfangs noch quasi „unsichtbar“ im Schwarm, weiß sie sich heute erfolgreich durchzusetzen. Das tut sie beispielsweise am Futternapf oder wenn es um ihre geliebte Badeschale mit Salateinlage geht.
Unter den anderen Katharinasittichen hat sie einige lockere Freunde gefunden. Hin und wieder wurde sie von der blinden Marisol gekrault, als diese noch lebte. Mit Carmen war sie zu deren Lebzeiten ebenfalls noch immer befreundet, wenn auch mit leicht eifersüchtigen Tendenzen. Denn Carmen ist es gelungen, Juan für sich als Partner zu gewinnen. In diesen charmanten Katharinasittichmann hat sich auch Fiorella verliebt, aber sie konnte bei ihm leider nicht landen. Trotzdem lässt sich der Macho gern von ihr kraulen, was sie dann mit Eifer tut. Sobald sie von ihm gekrault werden möchte, dreht er sich um und stapft davon. Sie tut mir dann immer sehr leid und ich hoffe, sie wird sich irgendwann mit einem anderen Artgenossen intensiver zusammenschließen, um nicht ständig solche Enttäuschungen in Liebesdingen einstecken zu müssen. Einige Zeit später wurde Fiorella dann aber mit Yoko glücklich, wodurch sich ihre Beziehung zu ihrer Freundin Carmen ebenfalls wieder verbesserte. Nach Carmens Tod tröstete Yoko seinen trauernden Freund Juan. Fiorella unterstützte ihn, inzwischen sind die drei Vögel unzertrennlich.
Die meisten meiner Katharinasittiche haben spanische Namen. Der Grund dafür ist, dass die Vogelart aus Mittel- und Südamerika stammt und somit in einer Region der Erde vorkommt, in der vielerorts vor allem Spanisch gesprochen wird. Der Name Fiorella ist fast schon zu „mächtig“ für diesen extrem zierlichen blauen Vogel, weshalb ich sie oft einfach nur Fio rufe. Inzwischen hört sie sogar ein wenig darauf. Und was mich am allermeisten freut: Sie ist längst nicht mehr klein und schüchtern, sondern nur noch klein. Dabei steckt sie voller Energie und Tatendrang. Ständig ist sie im Vogelzimmer „auf Achse“ und beschäftigt sich für ihr Leben gern mit den verschiedenen Vogelspielzeugen.