Puck und Icarus

Verfasst im Dezember 2000, überarbeitet im Mai 2020

Icarus war ein zierliches Vogelweibchen
Icarus war ein zierliches Vogelweibchen

In der zweiten Novemberhälfte 2000 wandte sich eine ehrenamtliche Mitarbeiterin des Essener Tierheims mit einer Bitte an mich an mich. Sie fragte, ob ich eventuell Platz für zwei heimatlose Wellensittiche in meinem Vogelzimmer hätte. Nach kurzem Überlegen willigte ich ein, da ich früher bereits zeitweilig zwölf Vögel in dem Zimmer untergebracht hatte und meine zu jener Zeit zehn Sittiche sich über weitere Gesellschaft freuen würden, war ich mir sicher.

Zwei Tage später traf ich mich mit der Frau im Tierheim und sie zeigte mir die Vogelabteilung. Dort saßen ein halbes Dutzend schüchterner und verängstigter Schauwellensittiche, ein sich selbst die Federn ausrupfender Mohrenkopfpapagei, ein ständig miteinander schmusendes und kuschelndes Wellensittichpärchen, ein einzelner Welli, ein undefinierbarer Vogel und ein wie ich leider gestehen muss eher unansehnliches Wellensittichpärchen. Diese beiden Vögel hießen Budgi und Charly. Wochen zuvor hatte man sie ins Tierheim gebracht und seither konnten sie nicht vermittelt werden, vermutlich da niemand sie schön fand. Denn beide Vögel hatten schlechtes Gefieder und je eine Fettgeschwulst im Brustbereich. Abgesehen von diesen „Beulen“ waren sie sehr mager. Hinzu kam, dass die arme Charly flugunfähig war, einer ihrer Flügel stand vollkommen schief. Der Vorbesitzer hatte die beiden Vögel mit der Begründung ins Tierheim gegeben, seine Wohnung sei zu klein geworden. Vermutlich hat er sie zu heiß gewaschen und sie ist dabei eingelaufen. Anders ist es wohl kaum zu erklären, dass zwei Wellensittiche plötzlich nicht mehr hinein passten …

Puck auf dem Weg zum Salat
Puck auf dem Weg zum Salat

Mir taten die beiden Vögel sehr leid und ich hoffte, sie würden durch intensive und fürsorgliche Pflege wieder ein besseres Gefieder bekommen und vor allem etwas zunehmen. Die ehrenamtliche Mitarbeiterin und ich luden den Transportkäfig inklusive der Vögel in ihren Wagen und fuhren zu mir. Den ersten Abend verbrachten die beiden Neuen erst einmal zum Eingewöhnen in meinem Wohnzimmer, welches direkt an das Vogelzimmer grenzt. Als symbolischen Anfang eines neuen Lebens erhielten sie außerdem neue Namen: Puck nannte ich das Männchen und Icarus das flugunfähige Weibchen.

Am nächsten Morgen überlegte ich, ob ich sie einen weiteren Tag im Käfig lassen sollte. Da sie ärztlich durchgecheckt waren und bereits seit Wochen im Tierheim in ihrem Käfig eingesperrt gewesen waren, beschloss ich, sie sofort zu meinen Wellensittichen zu lassen. Schon als ich den Käfig in das Vogelzimmer trug, fing Puck an, auf die Rufe der anderen Sittiche zu antworten. Sofort nachdem ich das Türchen des Käfigs geöffnet hatte, stürmte er hinaus und flog zu Rhea, Kallisto, Herkules und Umbriel. Icarus wackelte indes unbeholfen auf der Stange hin und her, stürzte vor lauter Aufregung auf den Käfigboden und schaffte es dann aber doch, den Weg nach draußen zu finden. Weil ich ja wusste, dass sie nicht fliegen konnte, hatte ich den Käfig auf den Boden gestellt.

Dort hatte ich vor einiger Zeit auch einen Kletterbaum sowie Futter- und Fressnäpfe platziert, damit meine gehandicapten Tiere wie die Nicht-Fliegerin Icarus bestens versorgt waren. Puck gesellte sich bald wieder zu seiner behinderten Freundin, und als ich abends von der Arbeit heimkam, saßen die beiden noch immer dort, wo ich sie schon morgens hatte sitzen sehen. Sie wirkten zwar so, als fühlten sie sich wohl, aber ihnen war die neue Umgebung offensichtlich noch ein wenig fremd und sie zogen es vor, erst einmal von diesem Platz aus alles in Ruhe anzuschauen.

Umbriel wurde Pucks neuer Freund
Umbriel wurde Pucks neuer Freund

Drei Tage später bot sich bereits ein gänzlich anderes Bild. Puck, der der körperlich schwer eingeschränkten Icarus zuvor so gut wie nie von der Seite gewichen war, saß praktisch gar nicht mehr bei seiner alten Freundin. Er hielt sich ständig bei den anderen Schwarmmitgliedern auf, meist in der Nähe des halb blinden Männchens Umbriel. Die beiden Herren sangen vier Tage nach der Adoption bereits klangvolle Duette vor dem großen Fressnapf. Man hätte Puck zwar Treulosigkeit vorwerfen können, weil er Icarus nun sehr häufig allein auf ihrem niedrigen Kletterbaum sitzen ließ. Verständlich war es jedoch, dass Puck die neu gewonnene Freiheit im Vogelzimmer in vollen Zügen genoss und sich zu den vielen Vögeln gesellte.

Zum Glück blieb auch Icarus nicht lange allein. Nach nur zwei Tagen begann Kiki sich für sie zu interessieren. Das alte Männchen, dessen Oberschnabel vor ein paar Jahren bei einem Unfall im Haus seiner Vorbesitzer abgebrochen war, war knapp ein Jahr zuvor zusammen mit seinem Partner Kleiner zu mir gekommen. Die beiden Tiere sollten auf unbestimmte Zeit bei mir bleiben, weil ihre Besitzerin sie vorübergehend nicht selbst pflegen konnte. Leider war Kleiner im März 2000 an einem chronischen Leiden gestorben. Daraufhin schloss sich der damals fast 16-jährige Kiki der zu jener Zeit rund fünf Monate alten Sittichdame Rana an und die zwei turtelten ständig miteinander.

Icarus mit ihrem Gefährten Kiki
Icarus mit ihrem Gefährten Kiki

Mit ihrer grünen Gefiederfarbe schien Icarus den alten Kiki an seinen verstorbenen Freund zu erinnern. Es war auffällig, wie sanft und freundlich Kiki seit ihrer ersten Begegnung mit Icarus umging, obwohl er den neuen Vogel anfangs nicht kannte. Icarus ließ sich die Gesellschaft von Kiki gern gefallen. Eine Woche nach der Adoption der beiden Tierheimvögel waren Kiki und Icarus bereits so eng befreundet, dass sie einander nicht mehr von der Seite wichen. Rana besuchte die beiden Vögel gelegentlich, aber die junge Sittichfrau spielte seit Icarus‘ Einzug ins Vogelzimmer nur noch eine untergeordnete Rolle im Leben ihres betagten Liebhabers. Es zeichnete sich ab, dass es bald eine „Scheidung“ geben würde. Eines Abends beobachtete ich Kiki und Icarus dabei, wie sie auf dem Käfigdach lagen und sich dösend aneinander kuschelten. Dabei waren sie so dicht beieinander, dass Kikis linker Flügel über seiner neuen Freundin lag. Man hätte glatt denken können, er habe schützend den Flügel um Icarus gelegt.

Nachtrag

Am 23. März 2001 starb Puck nach kurzer, schwerer Krankheit. Die vier Monate, die er bei mir verbracht hat, waren hoffentlich schön für ihn. Einige Monate später folgte Icarus ihrem alten Freund. Sie starb ganz plötzlich am 30. August 2001. Bis dahin war sie sehr eng mit Kiki befreundet, der ihr viel Zuneigung spendete.