Naya
Der damals noch existierende Verein der Wellensittich-Freunde Deutschland e. V. (VWFD) hatte im Sommer 2019 alle Hände voll zu tun. Die Tierschützer waren in eine Vogelrettungsaktion involviert, bei der es darum ging, weit über 100 Wellensittichen zu helfen. Sie wurden aus ihrem ehemaligen Zuhause abgeholt, weil sie dort nicht optimal versorgt werden konnten, und sollten vermittelt werden. Für derart viele Vögel gleichzeitig ein Zuhause zu finden, ist äußerst schwierig. In diesem Fall kam erschwerend hinzu, dass viele der geretteten Wellensittiche noch sehr jung waren und bedauerlicherweise eine ganze Reihe Vögel massive Gefiederstörungen aufwies. Somit war an sich schon vor dem Tierarztbesuch klar, dass sie entweder an der Französischen Mauser (hervorgerufen durch Polyomaviren) oder an PBFD (verursacht durch Circoviren) litten.
Für beide Krankheiten gilt dasselbe: Sie sind unheilbar und außerdem ansteckend. Mit dieser Ansteckungsgefahr geht einher, dass betroffene Vögel nicht einfach so vermittelt werden können. Sie sollten nicht mit gesunden Vögeln vergesellschaftet werden, sondern idealerweise mit Artgenossen, die dieselben Viren tragen. Bedauerlicherweise bedeuten sowohl PBFD als auch die Französische Mauser oftmals aber mehr als nur ein zerzaustes Aussehen. Viel gravierender für die erkrankten Vögel ist, dass viele von ihnen nicht fliegen können, weil ihnen die großen Federn an den Flügeln fehlen. Das galt auch für mehrere der Wellensittiche aus der Rettungsaktion. Für diese kleinen Bruchpiloten musste deshalb nach behindertengerechten Unterbringungen gesucht werden – ein insgesamt sehr kompliziertes Unterfangen.
Als ich von der Aktion hörte, war mir gleich bewusst, wie schwierig sich die Situation für den VWFD darstellt. Deshalb bot ich an, sechs gehandicapte Vögel vorübergehend bei mir aufzunehmen – mit der Option, ein bis zwei besonders schwer gehandicapte Vögel dauerhaft zu behalten. Mittelfristig sollten die anderen vier bis fünf Wellensittiche vermittelt werden.
In meinem Vogelschwarm sind einige Tiere Träger der Viren, weshalb eine mögliche Ansteckung für uns kein Problem darstellte. Damit waren die Weichen dafür gestellt, dass meine sechs Schützlinge vorübergehend in meinem Vogelzimmer untergebracht werden konnten. Am 13. August 2019 trafen die sechs Wellensittiche schließlich bei mir ein, und Naya war eine von ihnen.
Kurz zuvor waren die Wellensittiche von einem vogelkundigen Tierarzt untersucht worden. Dabei hatte sich herausgestellt, dass sie unter einem Befall mit Räudemilben litten. Außerdem waren in dem Bestand, aus dem sie stammten, bei einigen Vögeln Trichomonaden nachgewiesen worden. Also mussten sie auch gegen diese Parasiten behandelt werden – und zunächst einmal für einige Zeit in Quarantäne bleiben. Nur so konnte ich sicherstellen, dass sich meine eigenen Vögel keine Milben oder Trichomonaden einfangen. Während dieser Quarantänezeit wurde auch klar, dass der junge Barry besonders schwer gehandicapt war und deshalb das Los für einen Dauerplatz in meinem Vogelzimmer zog. Natürlich gemeinsam mit seiner ebenfalls flugunfähigen Partnerin Mel, schließlich sollte das verliebte Pärchen nicht getrennt werden. Für Naya und die anderen drei Weibchen sollte ein dauerhaftes Zuhause in einem anderen Vogelhalter-Haushalt gefunden werden, aber leider interessierte sich niemand für die ebenso liebenswürdigen wie auf ihre Art hübschen Weibchen. Mehrere Monate lang versuchten der VWFD und ich, jemanden mit einem großen Herz für Handicap-Vögel zu finden, aber leider ohne Erfolg. Die „Mädels“ nutzten derweil ihre Chance und setzten alles daran, sich in mein Herz zu schleichen. Also kam es, wie es kommen musste: Am 28. März 2020 unterzeichnete ich die Adoptionspapiere für meine verbliebenen Pflegevögel aus dem Notfall 2019; Mel und Barry hatte ich bereits ein wenig früher offiziell aufgenommen.
Damit war Naya dann offiziell auch ein Birds-Online-Sittich geworden. Sie hatte die Jugendmauser bereits hinter sich, als sie in meine Obhut gelangte, war aber zu dem Zeitpunkt offenkundig noch nicht allzu alt. Ich vermute, dass sie Anfang 2019 zur Welt gekommen ist. Ein Blick auf den hellblauen Vogel mit der zartgrauen Wellenzeichnung reicht, um zu erkennen, dass eine Virusinfektion im Spiel ist. Nayas Federkleid ist sehr lückenhaft, wovon vor allem ihr Kleingefieder betroffen ist. An Bauch und Brust sieht die Vogeldame deshalb recht zerzaust aus und es wirkt fast so, als wäre sie eine Federrupferin. Doch das ist sie nicht, die Federn wachsen einfach nicht nach. Der Schwanz ist ein wenig zu kurz und es fehlen auch einzelne lange Federn an den Flügeln. Dadurch ist Naya in ihrer Flugfähigkeit deutlich eingeschränkt, aber ein wenig herumflattern kann sie trotzdem. Und wenn sie mal von einem höheren Platz aus startet, stürzt sie zum Glück nicht wie ein Stein zu Boden.
Enge und Stress mag die Vogeldame nicht. Im Quarantänekäfig war sie übellaunig und prügelte sich häufig mit den anderen Vögeln. Ich befürchtete schon, es mit einer kleinen „Oberzicke“ zu tun zu haben. Seit Naya jedoch im Vogelzimmer lebt und mehr Platz hat, ist sie lammfromm und regelrecht aufgeblüht. Sie ist freundlich zu den anderen Vögeln, singt sehr häufig und schreddert am liebsten den ganzen Tag mit allergrößter Ausdauer Kork. Seit sie hier eingezogen ist, hat sich mein Korkrindenverbrauch erheblich gesteigert.
Außerdem ist sie nicht gern Single. Sie flirtet mit allen Männchen, die sich in ihre Nähe gesellen. Das geht sogar so weit, dass sie sich ihnen regelrecht an den Hals wirft und sie zur Paarung auffordert. Bei Ole hatte sie zu dessen Lebzeiten mitunter Erfolg, obwohl er eigentlich mit Else verpaart war. Die reagierte immer gelassen auf Oles „außerehelichen Aktivitäten“ mit Naya und prügelte sich nicht mit ihr. Gegen sie hätte Naya wohl auch den Kürzeren gezogen. Doch je älter sie wird, desto ruhiger wird sie. Ihre Annäherungsversuche sind inzwischen ein wenig dezenter geworden.
Ihren Namen erhielt Naya von mir. Ich habe sie zu Ehren der wenige Wochen vor dem Einzug meiner Wellensittichdame leider viel zu früh verstorbenen, talentierten Schauspielerin Naya Rivera benannt.